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Artikel NZZ 1. Februar 2002

Kein Ausweg in Kaschmir?

Wenig Spielraum in einem festgefahrenen Konflikt

Von unserem Südasien-Korrespondenten Bernard Imhasly 

Zwei der grössten Armeen stehen sich an der indisch-pakistanischen Grenze gegenüber. Auch wenn sich die unmittelbare Kriegsgefahr verringert hat, zeichnen sich keine gangbaren Szenarien für eine Lösung ab. Keiner der bestehenden Vorschläge findet bei allen drei Beteiligten - Indien, Pakistan und dem kaschmirischen Volk - Zustimmung.

Delhi, 31. Januar 

«Kaschmir rinnt in unserem Blut», hat der pakistanische Präsident, Pervez Musharraf, in seiner Fernsehansprache am 12. Januar gesagt. Er kündigte bei diesem Anlass eine radikale Umformung Pakistans an, doch an der Haltung zu Kaschmir, so stellte er fest, werde sich nichts ändern. Von jenseits der Grenze kam ein Echo: «Kaschmir fliesst in ihrem Blut?», fragte Omar Abdullah rhetorisch zurück. «Nun, es steckt in unserem Knochenmark, es ist Teil unserer Seele», sagte der Sohn des kaschmirischen Chefministers Farooq Abdullah. Die von beiden Seiten benützten Bilder sprechen eine deutliche Sprache. Zwischen den beiden Positionen scheint es praktisch keinen Spielraum für eine Kompromisslösung in diesem 54-jährigen Konflikt zu geben. Dennoch drängen sich Verhandlungen auf, und sei es nur, um das Kriegsrisiko zu mindern, das die Konfrontation von zwei der grössten Armeen der Welt mit sich bringt, die zudem mit Nuklearwaffen ausgerüstet sind. Auch die internationale Gemeinschaft verstärkt den Druck und fordert eine Verhandlungslösung, weil die geographische Nähe zwischen einem religiös legitimierten Terrorismus und tiefsitzenden ethnischen Spannungen die Virulenz des Konflikts erhöht.

Pakistan gegen den Status quo 

Welches sind die Kompromissmodelle, die trotz dieser Ausweglosigkeit in Diskussionen beidseits der Grenze immer wieder auftauchen? Es gibt drei Vorschläge, die allerdings alle das Handicap haben, dass keiner alle drei Parteien - wenn man die kaschmirische Bevölkerung einschliesst - befriedigt. Die für viele Aussenstehende am nächsten liegende Lösung wäre die Umwandlung der Waffenstillstandslinie in die internationale Grenze. Beide Teile Kaschmirs sind etwa gleich gross, und sie sind, nach einem halben Jahrhundert Besitznahme, zumindest administrativ in die beiden Staaten integriert (politisch werden die pakistanisch besetzten Regionen immer noch bevormundet). Doch es ist genau dieser Status quo, den Pakistan immer zurückgewiesen hat. Eine rechtliche Fixierung der provisorischen Grenze würde nämlich bedeuten, dass Pakistan leer ausgeht. «Eine Festigung des Status quo ist keine Lösung», meint der Publizist Najam Sethi. «Sie wäre ein Gesichtsverlust, den keine pakistanische Regierung riskieren kann.»

Indien hatte beim Friedensvertrag von Simla - nach dem zweiten der drei Kaschmir-Kriege - vergeblich versucht, diese Lösung durchzusetzen. Im Lauf der letzten zehn Jahre, in denen die frühere politische Opposition immer gewalttätigere Formen angenommen hat, hat sich auch die indische Haltung verhärtet: Statt sich wie früher mit dem Grenzverlauf nach dem Krieg von 1948 zufriedenzugeben, verabschiedete das Parlament 1993 eine Resolution, die auch die pakistanischen Teile Kaschmirs als indischen Besitz einfordert.

Vom Befreier zur Besetzungsmacht 

Im Gegensatz dazu fordert Pakistan die Befolgung der Uno-Resolutionen, die von beiden Ländern die Durchführung eines Plebiszits verlangt hatten. Zur Wahl stünde bei diesem zweiten Lösungsvorschlag der Anschluss an Indien oder Pakistan. Islamabad glaubt, dass die mehrheitlich muslimische Bevölkerung sich für Pakistan entscheiden würde. Indien dagegen, das in den ersten Jahrzehnten wohl ein ähnliches Ergebnis voraussah, akzeptierte die Uno-Resolutionen nie. Delhi versteckte sich hinter dem Vorwand, Pakistan müsse seine Truppen aus dem «von Pakistan okkupierten Kaschmir» abziehen, wie dies die Uno ebenfalls forderte. Delhi versuchte mit der Gewährung grösserer Autonomie diese Forderung und die Sezessionstendenzen zu unterlaufen. Doch aus der Angst davor kam es immer mehr zu einer politischen Gängelung und zur (finanziellen) Manipulation von Politikern. In den Augen des kaschmirischen Volks wurde aus dem Befreier von 1947 immer mehr eine Besetzungsmacht, und diese Entfremdung wurde nach 1989 von Pakistan systematisch gefördert. Dies hat wiederum Indiens Intransigenz gegenüber den Uno-Resolutionen verhärtet, die es inzwischen als «verjährt» betrachtet.

Einige kaschmirische Parteien mit Verbindungen zu Pakistan fordern ebenfalls ein Referendum. Doch im Lauf von zehn Jahren einer von Pakistan finanzierten Untergrundbewegung hat sich im kaschmirischen Volk eine dritte Formel als bevorzugte Lösung eingebürgert: Ja für ein Referendum, doch soll dieses eine weitere Option anbieten, nämlich die Unabhängigkeit Kaschmirs. Die meisten Beobachter gehen heute davon aus, dass eine Mehrheit sich für diese Lösung entschiede. Allerdings gibt es auch in Kaschmir Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Teile in Pakistan denn an einem solchen Plebiszit teilnehmen sollen, da für viele Kaschmirer - ebenso wie für das pakistanische Establishment - die «Northern Areas» von Baltistan, Gilgit und Hunza nicht integraler Bestandteil Kaschmirs sind (sie waren im 19. Jahrhundert von den Engländern dem Maharadscha geschenkt worden, der sie als Untertanengebiet betrachtete). Die Unabhängigkeitsvariante ist die einzige, bei der Indien und Pakistan derselben Meinung sind. Beide lehnen sie ab.

Fallstricke einer Dreiteilung 

Angesichts der Inkompatibilität dieser drei Möglichkeiten - jede wird von einer der drei Parteien als einzig akzeptable apostrophiert - kam es in den letzten Jahren zu Versuchen, aus der ethnischen Heterogenität der Region mögliche Lösungsansätze zu entwickeln. Nicht nur die pakistanisch besetzten Teile Kaschmirs sind ethnisch und historisch verschieden. Auch das indische Jammu und Kaschmir besteht aus drei deutlich getrennten Regionen: Das Tal von Srinagar ist überwiegend muslimisch, Jammu wird mehrheitlich von Hindus bewohnt, und Ladakh ist mit Ausnahme des Kargil-Bezirks buddhistisch. Wäre es möglich, das Problem zu reduzieren, indem sich beide Länder in einem ersten Schritt darauf einigten, die «Northern Areas» endgültig Pakistan zuzuschlagen und die hinduistisch und buddhistisch bevölkerten Regionen von Jammu und Ladakh der Indischen Republik? Dies würde das Problem auf das (indische) Tal von Srinagar und Azad Kashmir in Pakistan reduzieren - etwa ein Achtel des ganzen Territoriums.

Für viele Pakistaner wäre dies ein gangbarer Weg. Erstaunlicherweise gab es in den letzten Jahren auch in Kreisen der in Indien regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) Anhänger dieser Lösung, auch wenn sie in einer harmloseren Form daherkam, nämlich der Dreiteilung von Jammu und Kaschmir in die erwähnten drei Regionen. Dies kam den radikalen Hindu-Faktionen entgegen, welche - ähnlich wie fundamentalistische Muslime jenseits der Grenze - in einer religiös-ethnischen (Be-)Reinigung das Problem als gelöst sehen. Allerdings hat die BJP seit der Übernahme der Regierungsverantwortung die Fallstricke entdeckt, die einer Dreiteilung innewohnen. Eine kleine Muslim-Region an der Grenze zu Pakistan würde den Druck für einen Anschluss an den islamischen Nachbarn massiv vergrössern. Im Gegenzug ginge Indien leer aus - ein Szenario, das der sich nationalistisch gebärdenden BJP plötzlich den Vorwurf des Ausverkaufs der Heimat einbrächte.

Hoffen auf eine positive Dynamik 

Damit bleibt nur ein unter Akademikern diskutierter Ansatz. Da die Kontrahenten unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen, soll das Resultat noch gar nicht vorweggenommen werden. Nur der Verhandlungsweg dorthin soll festgelegt werden, während das Ziel als Leerformel artikuliert wird - nämlich, dass das Endresultat für alle drei Parteien annehmbar sein muss. Der Verhandlungspfad dagegen wird mit konkreten Wegmarken versehen. Die erste ist die Zeitvorgabe, zum Beispiel zehn Jahre, an deren Ende das Ziel erreicht sein soll. Auf dem Weg dahin akzeptieren die Parteien bestimmte Verhaltensvorschriften, welche sicherstellen sollen, dass die Zielsetzung nicht beeinträchtigt wird. Dazu gehört in erster Linie ein Gewaltverzicht, aber auch Massnahmen wie Personenaustausch, Öffnung der Landesgrenzen für einen verstärkten Wirtschaftsverkehr, Ausdünnung der militärischen Verbände auf beiden Seiten, eine möglichst weitgehende Verwaltungsautonomie in ganz Kaschmir, Garantie für Einhaltung und Kontrolle der Menschenrechte.

Dieser Ansatz setzt auf die positive Dynamik, welche ein solches Verhalten - allem voran ein Ende der Gewalt - im Verhältnis der beiden Länder auslösen würde. Das gegenseitige Misstrauen, das bei vielen Menschen beidseits der Grenze im Lauf der letzten zehn Jahre Züge des Hasses angenommen hat, würde dadurch graduell reduziert. Damit würde sich im Verlauf der Jahre auch die Angst lösen, welche dem Misstrauen und dem Hass zugrunde liegt. Inder würden erkennen, dass es Pakistan nicht darum geht, die multiethnische und multireligiöse Demokratie zu destabilisieren, um Rache für den Verlust von Ostpakistan (und die Schaffung von Bangladesh) zu nehmen. Im Gegenzug könnten sich die Pakistaner von der Furcht vor dem «grossen Bruder» Indien lösen, der das Trauma der Zweiteilung des Landes nie verwunden hat und alles daransetzt, diesen historischen Fehltritt zu korrigieren.

Wer tut den ersten Schritt? 

Es ist durchaus möglich, dass solche beidseitigen Phobien mehr sind als dies und in der Mentalität des Gegners tatsächlich in Form von Ressentiments festsitzen. Wie die Angstszenarien selber verschwänden aber auch solche Revanchegelüste allmählich, je länger die täglichen Schlagzeilen von Toten oder von Bombenanschlägen ausbleiben und je intensiver der persönliche Kontakt zwischen Bürgern der beiden Länder wird. Allerdings, so lautet der Konsens nach einem Gespräch mit Studenten der Nehru-Universität in Delhi, braucht es jemanden, der den ersten Schritt tut, um den Teufelskreis von Angst, Misstrauen und Gewaltbereitschaft, die wiederum die Angst steigert, zu durchbrechen. Sowohl der indische Premierminister Vajpayee wie Präsident Musharraf haben sich dazu bereit erklärt - getan haben sie den Schritt allerdings noch nicht. Sie verhalten sich noch immer wie Politiker, denen das kurzfristige Kalkül wichtiger ist als das langfristige Interesse des Staates und des Volks. «Was wir brauchen», so das laute Wunschdenken eines Studenten «sind Staatsmänner.»

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 1. Februar 2002, Nr.26, Seite 5

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