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Kommentar in der NZZ vom 29.12.2001
Opfer der eigenen Rhetorik?
von C. Stieger
Die Beziehungen der beiden Nachbarländer Indien
und Pakistan sind wieder einmal auf einem
Tiefpunkt angelangt. Der indische Regierungschef
Vajpayee spricht von einem «aufgezwungenen
Krieg». Verteidigungsminister Fernandes betont,
Delhi bemühe sich um eine politische Lösung,
allerdings - wie er sich ausdrückt - von einer
Position der Stärke aus. Indien verlangt von
Islamabad, zwei islamistische Extremistengruppen,
die für den Anschluss des indischen Teils von
Kaschmir an Pakistan kämpfen, zu verbieten und die
Anführer festzunehmen. Nach Meinung Delhis
stecken die beiden Gruppen hinter dem Anschlag
auf das indische Parlament Mitte Dezember.
Kommt es zwischen den beiden Nuklearmächten
erneut zu einem Krieg um Kaschmir? Oder bleibt es
beim verbalen und diplomatischen Säbelrasseln, mit
dem Indien den pakistanischen Präsidenten
Musharraf dazu bringen will, gegen die von
Islamabad unterstützten Separatisten in Kaschmir
entschieden vorzugehen? Und was geschieht, wenn
Musharraf nicht auf die indischen Forderungen
eingehen will oder kann? Die Stimmung ist auf
beiden Seiten aufgeheizt, und für eine Explosion
genügt ein kleiner Funke, eine Provokation von
Extremisten, die es auf beiden Seiten zur Genüge
gibt. Scharfmacher und hinduistische Nationalisten
in der indischen Regierung dringen darauf, Pakistan
eine Lehre zu erteilen und - nach dem Muster der
Amerikaner in Afghanistan - über die Grenze hinweg
Extremisten zu verfolgen sowie deren
Ausbildungslager zu zerstören. Sie halten den
Zeitpunkt für überaus günstig.
Pakistan befindet sich zweifellos in einer
schwierigen Lage. Das Land ist ein wichtiger Pfeiler
der Anti-Terror-Koalition, unterstützt aber zugleich
die islamistischen Kämpfer in Kaschmir. Dort hat
Islamabad die Gewalt als «Befreiungskampf»
staatlich sanktioniert. Was für Indien «Terroristen»
sind, bezeichnet Pakistan als «Freiheitskämpfer»,
die sich dem «indischen Staatsterror» widersetzen
und für das Selbstbestimmungsrecht der
muslimischen Bevölkerung Kaschmirs kämpfen.
Religiös und politisch motivierte Gewalt wird in der
einen Region bekämpft, in der andern aber
gefördert und gerechtfertigt. Eine solche Trennung
lässt sich nicht länger aufrechterhalten.
Musharraf hat aber im Innern nur wenig Spielraum.
Er muss abwägen, wieweit er beim Vorgehen gegen
die Separatisten in Kaschmir dem indischen Druck
nachgeben kann, ohne seine eigene Machtposition
zu gefährden. Was er bisher im Kampf gegen die
Islamisten im eigenen Land getan hat, geht Delhi
viel zu wenig weit. Der pakistanische Machthaber
hat bereits mit der Abwendung von den zuvor
politisch instrumentalisierten Taliban in Afghanistan
ein grosses Risiko auf sich genommen und Teile des
Militärs vor den Kopf gestossen. Ob er es sich
leisten kann, auch die militanten Gruppen in
Kaschmir fallenzulassen, ist fraglich. Eine abrupte
Kehrtwende in der Kaschmir-Politik - und das erst
noch unter dem offensichtlichen Druck des indischen
Erzfeindes - würde Musharraf politisch kaum
überleben. Ein Putsch der Armee, die sich vor allem
auch dank dem ungelösten Konflikt in Kaschmir eine
zentrale Rolle im Staat hat sichern können, wäre
wohl die Folge.
Das Kaschmir-Problem geht zudem, anders als die
Politik gegenüber den Taliban, an die Substanz des
nationalen Selbstverständnisses Pakistans. Der
Verzicht auf den Besitz des von Indien beherrschten
Teils von Kaschmir würde einen wichtigen Pfeiler
des Staates erschüttern, der seit der Teilung
Britisch-Indiens 1947 den - allerdings uneinlösbaren
- Anspruch erhebt, die Heimat aller Muslime des
indischen Subkontinents zu sein. So bleibt Kaschmir,
das mehrheitlich von Muslimen bewohnt ist, ein
ständiger Stachel. Islamabad ist letztlich ein
Gefangener seiner eigenen Zwei-Staaten-Theorie.
Im Konflikt um Kaschmir gibt es seit Jahrzehnten
kaum Bewegung. Für Islamabad ist der indische
Gliedstaat Jammu und Kaschmir ein umstrittenes
Territorium, für Delhi ein integraler Bestandteil
Indiens. Pakistan möchte den Status quo ändern,
Indien diesen völkerrechtlich verankern. Ein
Nachgeben wäre aus der Sicht Delhis der Auftakt zu
einem Erosionsprozess im eigenen Land, das
ethnisch und religiös überaus heterogen ist. Mit der
Bekämpfung der Separatisten allein ist das
Kaschmir-Problem nicht gelöst. Mit Repression kann
Delhi die muslimischen Bewohner nicht für sich
gewinnen. Notwendig sind vielmehr politische
Zugeständnisse und Verhandlungen mit Pakistan
über die Zukunft der Region, auch wenn Delhi
derzeit davon nichts wissen will.
Die Wut über den Anschlag auf das Parlament in
Delhi, das Zentrum der indischen Demokratie, ist
verständlich. Es besteht aber die Gefahr, dass die
indische Führung ein Opfer der eigenen Rhetorik
wird und ein Zurück ohne Gesichtsverlust nicht mehr
möglich ist. Ein Sturz Musharrafs jedoch könnte in
Islamabad radikalere Kräfte und religiöse Fanatiker
an die Macht bringen. Das liegt gewiss nicht im
Interesse Indiens.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 29. Dezember 2001, Nr.302, Seite 3
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