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Artikel der NZZ vom 8. Mai 2002 |
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Hammerschlag Sharons gegen Palästina
Zerstörte Verwaltungsstruktur - lahmgelegte Notfalldienste
Die israelische Militärkampagne im
Westjordanland, welche Ministerpräsident Sharon
als Krieg gegen den Terrorismus rechtfertigte, hat
massive Schäden an der zivilen Infrastruktur der
Palästinensergebiete verursacht. Medizinische
Notfalldienste klagen über ihre weitgehende
Lahmlegung, was unnötigerweise viele Leben
kostete.
vk. Ramallah, Anfang Mai
Bei einem Rundgang in Ramallah nach dem israelischen
April-Feldzug gewinnt man in den Ministerien der
Autonomiebehörden den Eindruck einer mutwilligen oder
sogar systematischen Zerstörung ziviler Verwaltungszweige
des palästinensischen Gemeinwesens. Wenn die Suche
nach Terroristen und nach Informationen über ihre
Organisationsstrukturen das Hauptziel der Armee war, so
hat sie dabei sehr weitschweifig die öffentlichen Dienste für
Gesundheit, Erziehung, Kultur, Infrastrukturarbeiten,
Fahrzeugregistrierung, weiter das Grundbuchamt und
humanitäre Hilfsorganisationen geschädigt und
lahmgelegt.
Erniedrigung oder Terrorbekämpfung?
All dies, zusammen mit der Zerstörung Dutzender von
Privathäusern und historischer Monumente, mit der
gewaltsamen Durchsuchung Tausender von Wohnungen
und der Besudelung Hunderter von Büroräumlichkeiten mit
menschlichen Fäkalien, erscheint den Palästinensern als
eine gross angelegte Operation zur Bestrafung und
Erniedrigung der allzu selbstbewussten Nachbarn durch die
israelische Armee. Wo immer Keime eines
palästinensischen Nationalbewusstseins erkennbar waren,
randalierten die israelischen Soldaten, und wo sie auf
bewaffneten Widerstand stiessen, legten sie einzeln oder
sogar reihenweise die Häuser in Trümmer.
Der Rote Halbmond rechnet mit mindestens 280
Todesopfern und 630 Verletzten; ein
Uno-Entwicklungsexperte schätzte die Wiederaufbaukosten
auf 300 bis 400 Millionen Dollar. Die Klagen von
Gesundheitsbeamten und Sanitätsdiensten deuten auch
auf die Absicht der Behinderung medizinischer
Notfalldienste für Palästinenser durch die Armee.
Israelische Panzer blockierten tagelang die Spitäler von
Jenin und Nablus. Das Razi-Spital in Jenin, das nur 200
Meter vom heiss umkämpften Flüchtlingslager entfernt
liegt, ist nur ein Beispiel. Der Chefarzt klagte Mitte April, er
habe insgesamt nur acht palästinensische Verletzte zur
Versorgung erhalten, obwohl Bomben, Raketen und
Panzergranaten tagelang auf das Lager niederprasselten.
Zahlreiche Angriffe auf Sanitäter
Die Armee schloss den lokalen Ambulanzdienst des
Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) in Jenin nach
Angabe seines Leiters während 12 Tagen vom Lager aus;
nachher waren keine der gemeldeten Verwundeten mehr
aufzufinden. Der frühere Leiter der Notfallstation von
Jenin, Soliman al-Khatib, war schon am 4. März von den
Israeli erschossen worden, obwohl seine Bewegungen über
das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit
der Armeeführung abgesprochen waren. Nach Angabe des
Präsidenten des Roten Halbmonds in Ramallah, Yunis
al-Khatib, konnten seine Ambulanzdienste während der
israelischen Invasion nur zu 15 bis 20 Prozent der
Kapazität arbeiten; obwohl der Rote Halbmond ein
eigenes, völkerrechtlich anerkanntes Recht zur
Evakuierung von Verwundeten hat, machte die Armee alle
seine Bewegungen von einer Begleitung durch das IKRK
abhängig.
Während der ganzen 18 Monate der Intifada wurden laut
Khatib 4 Sanitäter des PRCS erschossen, 145 verletzt und
45 verhaftet; 3 sind noch immer im Gefängnis. Bei einer
Gesamtzahl von 250 Mitarbeitern der Notdienste bedeutet
das, dass nur je einer auf fünf ungeschoren davonkam.
Das ist für einen humanitären Hilfsdienst, der im
Operationsgebiet der Armee mit den angeblich weltweit
höchsten moralischen Richtlinien arbeitet und überdies
durch die Genfer Konventionen ausdrücklich geschützt ist,
eine sehr bedenkliche Bilanz. Khatib bestreitet die
Anschuldigung der israelischen Armee von einem
Sprengstofftransport in einer PRCS-Ambulanz am
27. März; die PRCS hat am 27. April ein Gerichtsverfahren
gegen die Armee angestrengt, in dem sie beweisen will,
dass Soldaten jene Sprengladung in der Tragbahre der
fraglichen Ambulanz versteckt hätten.
Das IKRK beklagte sich seinerseits mehrfach über
israelische Angriffe gegen seine Delegierten; deswegen
schränkte es seine Aktivitäten am 5. April weitgehend ein -
und mit ihnen die des PRCS. Auch die Union der
medizinischen Hilfskomitees Palästinas beklagt sich über
massive Behinderungen durch die israelische Armee. Nach
diesen Angaben wurden in der ersten Aprilhälfte 65 Mal
Ambulanzen und medizinisches Personal angegriffen. In
Ramallah verwüsteten die Soldaten das
Gesundheitszentrum der Union, zerstörten die
Optiker-Station, das Büro für den Verleih medizinischer
Geräte und das Jugendzentrum; die Niederlassung der
Union in Kalkilya wurde von der Armee besetzt und als
Verhör- und Haftlager missbraucht.
Das Kulturministerium in Ramallah wurde erst am 2. Mai,
zusammen mit Arafats Amtssitz, von den Besetzern
geräumt. Sie hinterliessen lauter verwüstete, verschmierte
und besudelte Büros, zerstörte Computer und leere
Registerregale. Im Ministerium für öffentliche Arbeiten ist
das oberste Geschoss durch die Explosion eines
Geschosses und den anschliessenden Brand völlig
zerstört; der Rest der Büros ist verwüstet, selbst die
Toilettenschüsseln wurden zerschlagen. In der
Stadtverwaltung von Ramallah sprengten die Soldaten den
Haupttresor der Finanzbuchhaltung auf und entfernten
sämtliche Harddisks aus den Computern.
Im Erziehungsministerium entnahmen die Besetzer die
Harddisks von rund 50 Computern, weiter liessen sie die
Unterlagen für die nächsten Abschlussexamen und die
Beglaubigungsstempel für Abgangszeugnisse mitgehen;
zur Abrundung pflügten sie den Blumengarten mit ihren
Kettenfahrzeugen um. Nach Auskunft des Kulturministers
Abderabboh entwendeten die Soldaten im Grundbuchamt
sämtliche Unterlagen über den Bodenbesitz, was im Lichte
der fortschreitenden Enteignung für jüdische Siedlungen
ein schmerzlicher Verlust wäre. Immerhin liegt an einem
sicheren Ort ein umfassendes Doppel des Katasters. Im
Amt für Fahrzeugkontrolle fehlten nach der israelischen
Durchsuchung sämtliche Register, hier muss alles neu
erfasst werden.
Interne Untersuchung der Armee
Laut zahlreichen Zeugenaussagen, die nun von
Bürgerrechtsaktivisten aufgenommen und dokumentiert
werden, richteten die Soldaten auch in Schulen und in
vielen Privatwohnungen Zerstörungen an und liessen
Wertsachen oder Bargeld mitgehen. Sie zwangen
systematisch einen lokalen Anwohner, ihnen bei der
Durchsuchung von Gebäuden zum Schutz voranzugehen.
Die israelische Presse berichtete Anfang Mai erstmals auch
über solche Vandalenakte und eine interne Untersuchung
der Armee darüber. Dazu kommen verbreitete Schäden an
Strassenbelägen und -lampen durch die Panzerfahrzeuge,
Hunderte von plattgewalzten Privatwagen und die
rücksichtslose Durchsuchung und Plünderung grosser
Geschäftszentren in Ramallah. Die Bewohner Cisjordaniens
lesen aus dem realen Vorgehen der israelischen Besetzer
einen ganz anderen Auftrag, als was der Generalstab und
die Regierung bekanntgaben: Erniedrigung der
Palästinenser und Zerstörung ihres Lebensraums.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 8. Mai 2002,
Nr.105, Seite 9
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