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  Artikel  der NZZ vom 8. Mai 2002  

Bericht von Human Rights Watch zu Jenin

Kein Massaker - aber schwere Völkerrechtsverletzungen 

Die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat einen Bericht über die Operation der israelischen Armee in Jenin von Anfang April veröffentlicht. Darin kommt HRW zu dem Schluss, dass dort kein Massaker stattfand, aber schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen wurden.

 jbi. Drei HRW-Experten haben zwischen dem 19. und dem 28. April in Jenin über hundert Einwohner sowie lokale Behörden, medizinisches Personal und internationale Hilfswerke zu den Vorkommnissen während der israelischen Anti- Terror-Operation vom 2. bis zum 16. April befragt. Nach dem Scheitern der Uno-Kommission zur Klärung der Vorgänge im palästinensischen Flüchtlingslager von Jenin auf Grund eines israelischen Vetos ist der Bericht von HRW wohl auf längere Zeit hinaus die einzige Untersuchung, die auf unvoreingenommenen Nachforschungen von Experten fusst. Auch die HRW-Rapporteure fanden keine Belege, die den Vorwurf von palästinensischer Seite, die Israeli hätten im Flüchtlingslager von Jenin ein Massaker durchgeführt, erhärten würden. Das Wort «Massaker» ist ohnehin kein rechtlicher Begriff; der Bericht hält fest, dass es offenbar keine grosse Anzahl von vermissten Personen aus dem Lager und keine Beweise für systematische Massentötungen gibt.

«Als Kriegsverbrechen einzustufen» 

Die Nachforschungen von HRW ergaben jedoch, dass die israelische Armee «schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht begangen hat, von denen einige auf den ersten Blick als Kriegsverbrechen einzustufen sind». Die Angriffe gegen das Lager, namentlich jene mit TOW-Missilen aus Helikoptern, waren laut den HRW-Berichterstattern unverhältnismässig und trafen unterschiedslos militärische und zivile Ziele. Zudem stünden die im Lager angerichteten Zerstörungen in keinem Verhältnis zu den verfolgten militärischen Zielen. Letzteres gelte vor allem für die Zerstörung von 140 Häusern und die schwere Beschädigung von 200 weiteren Gebäuden im Lager durch Bulldozer der israelischen Armee, die gemäss dem Bericht noch Häuser einrissen, als die palästinensischen Kämpfer ihren Widerstand bereits aufgegeben hatten.

Während der Operation der israelischen Armee in Jenin wurden 52 Palästinenser getötet, von denen 22 gemäss den Nachforschungen von HRW Zivilpersonen waren. Die Berichterstatter dokumentieren auf Grund von Gesprächen mit Augenzeugen die Umstände des Todes dieser Zivilisten und eines verletzten palästinensischen Kämpfers. Dieser war am ersten Tag der israelischen Invasion von Mitkämpfern vor den Eingang der zu einem Spital gehörenden Moschee gebracht worden, wo ihn das Spitalpersonal bemerkte. Alle Versuche der Ärzte und Pfleger, den verletzten Mann ins Innere des Krankenhauses zu ziehen, wurden von einem israelischen Panzer in der Strasse mit Schüssen auf den Verletzten und die Sanitäter beantwortet. Nach zwei Stunden war der Verletzte tot.

Tod bei Hilfe für Verwundeten 

Am gleichen Tag wurden laut dem HRW-Bericht auch fünf Zivilisten getötet, unter ihnen ein unbewaffneter junger Mann, der vor sein Haus trat und von den ins Lager eindringenden Soldaten angeschossen und schwer verletzt wurde. Eine Krankenpflegerin in weisser, mit einem roten Halbmond markierter Uniform versuchte mit ihrer Schwester, dem verletzten Mann zur Hilfe zu eilen; die etwa 100 Meter entfernten Soldaten schossen auch die beiden Frauen nieder. Während einer halben Stunde schossen die Soldaten auf jeden, der den auf der Strasse liegenden Verwundeten zu Hilfe kommen wollte. Einer der beiden Frauen gelang es schliesslich, in ihr Haus zurückzukriechen, ihre Schwester und der junge Mann, dem diese hatte helfen wollen, waren tot.

Eine Frau, die von einer Bombe getötet wird, mit der die Israeli ihre Haustüre sprengen (was die israelischen Soldaten zum Lachen bringt); eine ältere Frau, die während eines halbstündigen Beschusses ihres Hauses mit Panzergranaten schwer verletzt wird und einen Tag später stirbt, weil die Israeli keine Ambulanz zu ihrer Evakuierung durchlassen; ein gelähmter Mann, den israelische Bulldozer unter den Trümmern seines Hauses begraben - diese und 17 weitere Fälle von zivilen Opfern enthält der HRW-Bericht. Einige Fälle lassen vermuten, dass das jeweilige Opfer absichtlich umgebracht wurde, die meisten, dass der Tod von Zivilisten von den schiessenden Soldaten willentlich in Kauf genommen wurde. Die Autoren des Berichts stellen bei drei Fällen ein Kriegsverbrechen fest und fordern in vielen anderen eine Untersuchung darüber, ob ein solches vorliegt.

«Menschliche Schutzschilde» 

Obwohl von der IV. Genfer Konvention ausdrücklich untersagt, benutzen israelische Soldaten Zivilisten immer wieder als sogenannte «menschliche Schutzschilde». Diese Taktik wurde auch in Jenin angewandt; Zivilisten wurden aus ihren Häusern geholt und vorgeschickt, um die Türen der Nachbarhäuser zu öffnen und nachzuschauen, wer sich darin befand. Damit suchten die Militärs zu verhindern, selber zu Opfern von möglicherweise von palästinensischen Kämpfern gelegten Sprengsätzen zu werden. Ein Lehrer wurde während zweier Tage von einer Gruppe Soldaten auf ihre Patrouillen durch die Gassen des Lagers mitgenommen und wurde, als er einmal allein vorgeschickt wurde, um ein Haus auszukundschaften, von anderen Israeli unter Beschuss genommen.

Ein Vater, der mit seinem 14-jährigen Sohn als Geisel genommen wurde, wird im Bericht so zitiert: «Sie stellten mich in eine Ecke (des Balkons) und meinen Sohn in die andere. Der Soldat legte sein Gewehr auf meine Schulter. Ich stand dem Soldaten gegenüber, schaute ihm ins Gesicht, mit dem Rücken zur Strasse. Dann begann er zu schiessen. Das dauerte drei Stunden. Mein Sohn war in der gleichen Lage - er stand gegenüber dem Soldaten, der sein Gewehr auf seine Schulter stützte und schoss.»

Der HRW-Bericht stellt auch fest, dass die israelische Armee vom 5. bis zum 15. April jede medizinische Hilfe und die Evakuierung von Toten und Verletzten aus dem Lager verwehrt hat. Die Rechercheure haben zwei Fälle festgestellt, in denen Zivilisten starben, weil sie keine Pflege erhielten. Es gab auch mehrere Zwischenfälle, bei denen auf Ambulanzen geschossen wurde. Die Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die immer wieder bei den israelischen Militärbehörden um Zugang für die Sanitäter nachsuchten, wurden hingehalten oder mit Zusicherungen abgespeist, die sich beim ersten Versuch zu einer Evakuation als falsch erwiesen.

Der Bericht in englischer Sprache ist im Internet unter der
Adresse www.hrw.org verfügbar.


Neue Zürcher Zeitung, Ausland, 8. Mai 2002
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