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  Kommentar  der NZZ vom 27. April 2002  

Sharon hat keinen Friedensplan

Nach der erfolglosen Nahostmission seines Aussenministers Powell, dem es nicht gelungen ist, Israel und die palästinensische Führung zu einem förmlichen Waffenstillstand zu bewegen, hat Präsident Bush den israelischen Regierungschef Sharon dennoch optimistisch als einen «Mann des Friedens» bezeichnet. Sharons vor einem Monat begonnene militärische Offensive gegen palästinensische Städte und Flüchtlingslager in den autonomen Gebieten ist zwar noch kein grundsätzlicher Beweis für fehlenden Kompromiss- und Friedenswillen. Jede Regierung würde sich gegen derart teuflische Attentate, wie sie in den letzten Monaten wellenweise die israelische Zivilbevölkerung terrorisierten, mit militärischen Mitteln zur Wehr setzen.

Allerdings muss sich gerade eine demokratisch gewählte Regierung bei solchen Aktionen immer nach der Verhältnismässigkeit der Mittel fragen lassen. Dass in Cisjordanien nicht nur umkämpfte Gebäude wie im Flüchtlingslager von Jenin, sondern zusätzlich die Büroeinrichtungen und Archive etwa des palästinensischen Erziehungsministeriums oder des Grundbuchamtes in Ramallah verwüstet und zerstört worden sind, lässt sich auch nach Ansicht kritischer israelischer Kommentatoren nicht mehr einfach mit Terrorbekämpfung rechtfertigen. Da ging es offenbar auch um Absichten einer längerfristigen Herrschaftssicherung.

Sharon selber hat den alten Verdacht, dass er in Wirklichkeit nicht an einer umfassenden Kompromisslösung mit den Palästinensern interessiert sei, sondern bestenfalls an einer Zementierung des bei seinem Amtsantritt bestehenden Status quo, in dieser Woche mit allem Nachdruck bestätigt. Auf die Anregung eines Ministers von der Arbeitspartei, im Kabinett über eine eventuelle Evakuierung isolierter israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten zu diskutieren, reagierte Sharon mit einem vehementen Nein. Vor den im November 2003 fälligen Neuwahlen sei er nicht bereit, über die Räumung irgendeiner israelischen Siedlung überhaupt zu reden. Kurz darauf bekräftigte der Regierungschef vor dem Auswärtigen Ausschuss der Knesset noch einmal diesen kompromisslosen Standpunkt: Für ihn gebe es zwischen der vorgeschobenen Siedlung Netzarim im besetzen Gazastreifen und Tel Aviv keinen Unterschied.

Wahrscheinlich haben diese Stellungnahmen deshalb keine hohen Wellen geschlagen, weil sie eigentlich kaum überraschen. Der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter hat dieser Tage in einem Beitrag für die «New York Times» daran erinnert, dass Sharon stets jede Vereinbarung, die mit einem israelischen Rückzug aus besetzten arabischen Gebieten verbunden war, abgelehnt habe - vom Friedensvertrag mit Ägypten (den Carter vor bald 25 Jahren vermittelt hatte) über die Oslo-Abkommen bis zur Friedensregelung mit Jordanien.

Wenn Sharon nun für die nähere Zukunft jeden Gedanken an eine mögliche Räumung israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten Cisjordaniens und des Gazastreifens kategorisch zurückweist, dann entlarvt er damit allerdings auch seine Beteuerungen, seine Regierung sei im Prinzip zu «schmerzhaften Konzessionen» an die Palästinenser bereit, als leeres Wortgeklingel. Ohne Verzicht Israels zumindest auf die verstreut vorgeschobenen Siedlungen, die teilweise durch separate Strassen miteinander verbunden sind, wird es keinen palästinensischen Staat mit zusammenhängenden Gebieten geben. Damit bleiben auch Sharons frühere Äusserungen, er könne sich längerfristig die Schaffung eines palästinensischen Staates vorstellen, ohne glaubwürdige Substanz. Ein eigener palästinensischer Staat, der diesen Namen verdient, kann nur entstehen, wenn Israel sich aus dem Gazastreifen und aus Cisjordanien auf völkerrechtlich anerkannte Grenzen zurückzieht.

Sharon hat mit diesen dezidierten Markierungen zur Siedlungsfrage allfällig verbliebene Hoffnungen, dass er nach seinem brachialen Anti-Terror-Krieg doch noch Hand für eine politische Lösung des Territorialstreits mit den Palästinensern bieten könnte, zerstört. Seine jüngsten Beteuerungen an ein amerikanisches Publikum, er betrachte den saudischen Friedensvorschlag als ein wichtiges und konstruktives Signal, sind blosse Augenwischerei. Denn die saudische Offerte beruht ja gerade auf der Grundidee, dass Israel sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen hätte und im Gegenzug alle arabischen Länder normale Beziehungen mit dem jüdischen Staat aufnehmen würden.

Sharon und seine ideologische Gefolgschaft mögen sich der Überzeugung hingeben, dass mit der militärischen Zerschlagung gewalttätiger Gruppen und ziviler Infrastrukturen in den besetzten Gebieten die Herausforderung des palästinensischen Terrors für geraume Zeit entschärft worden sei. Tatsächlich ist in den letzten Wochen die Zahl der Anschläge zurückgegangen. Doch der inzwischen 74-jährige israelische Regierungschef hat sich bisher nicht durch politischen Weitblick ausgezeichnet. In einigen Monaten dürfte es für Sharon um einiges schwieriger sein als heute, in der israelischen Öffentlichkeit zu vernebeln, dass er über kein politisches Rezept für eine langfristig tragfähige Lösung der palästinensischen Frage verfügt.

Viele Israeli wissen oder ahnen wohl schon lange, dass ihr Land in den besetzten Gebieten nicht unbegrenzt als eine Art Kolonialmacht über drei Millionen Palästinenser herrschen kann, die man aus Gründen der nationalen Identität ja auch nicht als israelische Staatsbürger integrieren will. Dass der «Bulldozer» Sharon vor über einem Jahr überhaupt von einer klaren Mehrheit gewählt wurde, ist vor allem das zweifelhafte Verdienst der palästinensischen Extremisten und des Vorsitzenden der Autonomiebehörden, Arafat. Der Versuch, mit blutiger Gewalt gegen Zivilisten einerseits und mit einem Doppelspiel der politischen Führung andererseits die nationalen Ambitionen voranzubringen, hat zudem die leidgeprüfte palästinensische Bevölkerung noch tiefer ins Desaster geführt. Nötig gewesen wären fortgesetzte zähe Verhandlungen, Vertrauensbildung und durchdachte Forderungen.

Aber ein militärischer Erfolg gegen den Terror allein wird Israel keinen Frieden mit seinen arabischen Nachbarn bescheren. Die drei Millionen arabischen Einwohner im Westjordanland und im Gazastreifen werden sich nicht aus ihrer Heimat hinausdrängen lassen, wie das einige Extremisten am rechten Flügel von Sharons Koalition unverblümt anstreben. Und die postkoloniale Weltöffentlichkeit wird Israels willkürliche und völkerrechtswidrige Siedlungsexpansion je länger, je weniger akzeptieren.

Im tragisch verwickelten israelisch-palästinensischen Konflikt ist Israel in vieler Hinsicht die stärkere Partei. Eine überlegene Macht aber trägt auch die grössere moralische Verantwortung für das Zustandekommen einer fairen Friedenslösung. Sharon fehlt offenkundig das politische Format zu einer Zielsetzung, die über einen blossen Diktatfrieden hinausreichen würde. Manches könnte in der verhärteten innenpolitischen Stimmung in Israel wieder in Fluss kommen, wenn die traditionsreiche Arbeitspartei sich dazu durchringen würde, Sharons perspektivlose Politik nicht länger als Koalitionspartner zu stützen. Vielleicht würde man dann auch in Washington deutlicher erkennen, dass Sharon nicht wirklich ein «Mann des Friedens» ist.

R. M.
Neue Zürcher Zeitung, Leitartikel, 27. April 2002,  Seite 1
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