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  Artikel NZZ 4. Mai 2002  

Die Sprache der Trümmer in Nablus und Jenin

Zwischen militärischen Kampf- und Strafmassnahmen

vk. Nablus/Jenin, Anfang Mai

Die Altstadt von Nablus weist nach der israelischen Eroberung punktuelle Zerstörungen auf, ebenso die Stadt Jenin. Im Flüchtlingslager von Jenin ist das ganze Zentrum dem Erdboden gleichgemacht. Dies deutet auf die Überwindung von heftigem Widerstand, in Jenin aber auch auf eine gnadenlose Strafaktion.

Die beiden cisjordanischen Städte Nablus und Jenin haben je ihre abschreckenden Mahnmale der jüngsten israelischen Wiederbesetzung, welche nach dreiwöchigen Kämpfen mit einem Abzug aus den Stadtzentren und einer
verstärkten militärischen Blockade an der Peripherie geendet hat. In Nablus sind es die Mukataa, der Hauptsitz der Autonomieverwaltung, und das Yasmina-Viertel. Die schon früher aus der Luft bombardierte Mukataa wurde, nach dem Dutzend Einschusslöchern in der Fassade zu schliessen, bei der jüngsten Eroberung nochmals mit Panzerkanonen regelrecht durchsiebt. Und die zwei 500-jährigen Seifenfabriken von Yasmina mit ihren ehrwürdigen Steingewölben, wo seit Jahrhunderten aus Olivenöl und Ätznatron Kernseife gemacht worden war, hat die Armee mit Kampfbombern und mit eigens gelegten Sprengsätzen in einen Trümmerhaufen verwandelt. Der israelische Militärsprecher machte damals geltend, Palästinenserkämpfer hätten sich dort verschanzt. Am 30. April war an der Stelle der beiden aneinander gebauten Monumente, die säuberlich aus den angrenzenden Altstadtbauten herausgesprengt waren, nur noch ein Schuttfeld zu sehen; bei ersten Räumarbeiten hat die Stadtverwaltung die historischen Bausteine weggeschafft und für einen eventuellen Wiederaufbau aufgehoben.

Zerstörung historischer Gebäude 

An mehreren Zugängen der Altstadt von Nablus, wo die Fahrstrassen in enge Gassen und Bogengänge übergehen, deuten zerstörte Häuser auf massive Angriffe mit Bomben, Granaten und Raketen. Im Karyun-Viertel ist auch noch eine Sandsackbastion der palästinensischen Kämpfer mit Schiessscharten in einem Toreingang zu sehen; doch die Israeli durchstiessen mit einem gepanzerten Bulldozer kurzerhand eines der benachbarten Häuser und rollten die Stellung von hinten auf. Bei einem Rundgang sind mindestens ein Dutzend historische Steinhäuser mit massiven Schäden zu sehen. Nach Erhebungen der Stadtverwaltung wurden mindestens 60 Gebäude aus der Periode von 1500 bis 1940 völlig zerstört, weitere 200 Häuser erlitten Teilschäden.

Die tausendjährige Khadra-Moschee ist zu 85 Prozent zerstört, das türkische Shifa-Bad aus dem 19. Jahrhundert bekam drei Raketentreffer und wurde zur Hälfte beschädigt. Die katholische Kirche und die Fatimiyah-Schule, beide 400-jährig, wurden stark in Mitleidenschaft gezogen, und zahlreiche Bogengänge sind vernichtet. Allein die Räumarbeiten mitten in dem Gewirr historischer Bauten, von Erneuerungsprojekten gar nicht zu reden, gestalten sich nach Ansicht von westlichen Ingenieuren äusserst aufwendig.

Bürgermeister Shaka von Nablus gibt als Opferbilanz ungefähr 80 Tote an, 90 Prozent von ihnen Zivilpersonen, welche zum Teil unter den Trümmern ihrer Wohnhäuser umkamen. Allein unter den Stadtangestellten, die trotz der Ausgangssperre Nothilfe leisteten, sind 3 Todesopfer, 4 Verletzte und 14 Gefangene. Der Bürgermeister beklagt massive Schäden an der Strom- und Wasserversorgung; die Hälfte der Hochspannungsleitungen und drei Viertel des Stadtnetzes waren unterbrochen. Besonders im alten Kern waren Elektrizitäts-, Wasser- und Abwassersysteme völlig zerstört. Am 1. Mai waren diese Dienste wieder notdürftig hergestellt, die Strassen wurden eifrig befahren, Schulen und Märkte hatten ihren Betrieb wieder aufgenommen.

Widerstandsparolen in den Schutthaufen 

Im Zentrum des Flüchtlingslagers von Jenin befindet sich hingegen eine wahre Stätte des Elends. Im Viertel Hawashin bietet eine Fläche von rund drei Fussballfeldern das Bild eines von Menschen gemachten Erdbebens. Nach Aussagen von Anwohnern brauchte die israelische Armee hier, wo palästinensische Bewaffnete äusserst zähen Widerstand leisteten, tagelang Kampfhelikopter und Panzerkanonen. Nach abschliessenden Warnungen über Lautsprecher begann schliesslich am 11. April ein Bombardement mit F-16-Kampffliegern. Dann rückten riesige gepanzerte Bulldozer ein und legten in dem Geviert alle noch stehenden Haustrümmer endgültig flach. Die Armee machte geltend, sie habe auf diese Art zahlreiche Sprengladungen unschädlich gemacht. Rettungstrupps fanden im Schutt später Leichen von Kämpfern und Zivilpersonen.

Am 30. April war bei einem Besuch kein Leichengeruch mehr festzustellen. Palästinenser suchten im Schutt nur noch nach Habseligkeiten. Viele sassen einfach stumm da und liessen ihr Leid für sich selbst sprechen. Auf dem höchsten Schutthaufen waren an einer improvisierten Gedenkstätte palästinensische und islamische Fahnen aufgepflanzt. In frischer Schrift prangten an Betontrümmern und Hauswänden auch schon wieder die Widerstands- und Racheparolen der palästinensischen Kämpfergruppen: «Wir werden nicht vergessen und nicht vergeben.»

Zerstörungen ohne militärischen Wert 

In den Häusergruppen um das Zentrum sind vielfach entlang der Strasse auf beiden Seiten die Hausfassaden weggerissen. Die Bewohner sassen in den offenen Räumen und tranken Tee. Ein Baufachmann bemerkte, dass solche Schäden nicht von einem Kampfpanzer herrühren, sondern von Bulldozern mit einer grossen Ladeschaufel. Zudem müssten die Fahrer dieser Apparate grosse Erfahrung in solchen Operationen haben, denn die Gefahr des Einsturzes eines ganzen Gebäudes über der Maschine ist gross.

Es wird auch deutlich, dass diese Zerstörungen nur teilweise der Zufahrt von Panzern dienten; vielfach wurden ohne ersichtlichen Grund Häuser zerstört. Die Palästinenser fassen das Ganze als eine monumentale Strafaktion der Israeli für deren blutigen Verluste bei der Eroberung des Lagers auf, insgesamt 23 Tote und Dutzende von Verletzten. Auch nach Bombenangriffen in Israel werden als gängige Strafmassnahme die Wohnhäuser der Urheber zerstört. Die amerikanische Organisation Human Rights Watch befand in einem Bericht vom 3. Mai: «Die gewollte, systematische und umfassende Zerstörung des ganzen Hawashin-Viertels im Lager von Jenin stand eindeutig in keinem Verhältnis zu irgendeinem angestrebten militärischen Ziel.»

Das Uno-Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser (UNRWA) schätzt die Zahl der zerstörten Häuser auf rund 250, was bei den durchwegs dreistöckigen Bauten 750 Wohnungen entspricht; daraus ergibt sich die Überschlagsrechnung von etwa 3500 obdachlosen Personen. Das ganze Lager hatte 15 000 Einwohner gezählt, die soweit möglich in ihre Häuser zurückgekehrt sind. Mit Spenden aus arabischen Ländern und von israelischen Arabern wurden in der Stadt Jenin Notwohnungen für Betroffene angemietet. Die UNRWA erhielt seit dem 16. April wieder Zugang zum Lager, sie hat dann binnen zehn Tagen eine Not-Wasserversorgung eingerichtet und ihre Schulen und Kliniken wieder eröffnet. Internationale Katastrophenhelfer, aus Norwegen, Frankreich und der Schweiz, bargen in den ersten Tagen 280 Sprengkörper und durchsuchten das ganze Gelände nach Explosivstoffen; die Minengefahr besteht jedoch immer noch. Experten untersuchen Hunderte von stark beschädigten Häusern auf ihre Stabilität und die Möglichkeit allfälliger Reparaturen.

Keine konkreten Hinweise auf Massaker 

Die lokale Niederlassung des Roten Halbmonds identifizierte bis Ende April insgesamt 53 Leichen und 150 Verletzte, die aus dem Lager in die lokalen Spitäler eingeliefert wurden. Auf Grund der sehr zahlreichen telefonischen Hilferufe während der Kämpfe rechnete sie freilich mit sehr viel mehr Opfern, die sich nach dem verspäteten Zugang zum Lager nicht auffinden liessen. Die Armee verweigerte nach Aussagen des Roten Halbmonds während zwölf Tagen sämtlichen palästinensischen Ambulanzen den Zugang; auch nach dem Abflauen der Kämpfe blieb der Ort sechs weitere Tage gesperrt - damit die Armee die Spuren ihrer Taten aufräumen konnte, wie die Palästinenser glauben.

Berichte von Anwohnern des Lagers, die von der Erschiessung von Kämpfern, Gefangenen und Anwohnern durch die Armee berichteten, nährten Gerüchte über Massengräber und Massaker. Doch fanden sich davon bisher keine Spuren im Lager; ein einziger Überlebender wurde nach zehn Tagen verstört aus den Trümmern gerettet. Wie viele der Vermissten still wieder aufgetaucht sind, ist unklar. Einziger Anhaltspunkt sind Fernsehbilder eines arabischen Senders, die möglicherweise einen israelischen Transport von Leichen zeigten, sowie eine Bemerkung von Verteidigungsminister Ben-Eliezer, er rechne mit 48 Toten, wovon 45 Kämpfern.

Da eine Uno-Untersuchung wegen der Verweigerung Ministerpräsident Sharons ausfällt, beschränken sich die Abklärungen auf die Arbeit einer palästinensischen Untersuchungskommission, welche am 20. April von Arafat eingesetzt wurde, und die Berichte unabhängiger Bürgerrechtsgruppen. Human Rights Watch belegt unter anderem Fälle, in denen israelische Soldaten palästinensische Zivilisten dazu zwangen, stundenlang als Schutzschilde vor ihnen zu stehen, während sie auf Palästinenserkämpfer feuerten.

Neue Zürcher Zeitung, International, 4. Mai 2002, Nr.102, Seite 3
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