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Artikel der NZZ vom 28. Mai 2002 |
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Noch engere Würgeschlingen in Cisjordanien
Blockierte Städte - tägliche Armeevorstösse
Der israelische Anti-Terror-Krieg in Cisjordanien
hat seit dem Ende des gepanzerten Einmarschs
am 10. Mai einem Netz von Würgeschlingen rund
um die Palästinenserstädte Platz gemacht. Die
Armee stösst als Polizeitruppe fast täglich
gewaltsam in Ortschaften vor, weist aber jede
soziale Verantwortung von sich.
vk. Limassol, 27. Mai
Seit dem Abschluss der aktiven Phase von
Ministerpräsident Sharons Anti-Terror-Krieg im
Westjordanland am 10. Mai und dem Abzug der Panzer
aus den Städten fliesst zwar weniger Blut, aber es fliesst
immer noch. Täglich dringen gepanzerte Kolonnen für ein
paar Stunden in eine palästinensische Ortschaft ein, fast
jedes Mal brechen Schiessereien mit Bewaffneten aus, und
regelmässig werden einige Palästinenser gefangen
genommen und abtransportiert. Über das Wochenende
drang die Armee in Kalkiliya und Bethlehem ein, und in
Tulkarem gleich zweimal. Dort kam ein israelischer Soldat
ums Leben und zwei erlitten Verletzungen; acht
Palästinenser wurden verwundet. Am Montag verhafteten
die Soldaten in Bethlehem 16 Aktivisten, unter ihnen
einen Kommandanten der Aksa-Brigaden. In der Woche
zum 23. Mai wurden nach lokaler Zählung mindestens acht
Palästinenser erschossen, unter ihnen ein siebenjähriges
Kind, zwei Halbwüchsige, eine Frau und ein Arzt.
Umgekehrt setzten sich auch die palästinensischen
Selbstmordangriffe innerhalb Israels fort, und
Verteidigungsminister Ben-Eliezer sprach am Sonntag von
einer neuen Gewaltwelle und entsprechenden
Gegenmassnahmen. Also hat auch der aufwendige Krieg
Sharons Ziel der Grabesruhe nicht erreicht.
Ordnung nach Gutdünken der Generäle
Doch die Nachrichten über den täglichen Rückzug
israelischer Stosstrupps lenken von den anhaltenden
Folgen der Invasion ab, welche viel tiefer greifen als die
eigentliche militärische Jagd nach palästinensischen
Aktivisten. Die Truppen haben sich nämlich in neuen
Stellungen rund um die Ortschaften aufgestellt und setzen
eine neue politische Territorialordnung mit acht separaten
Enklaven rund um die Städte durch, wie sie in keinem
Abkommen mit den Palästinensern vereinbart ist. Die
israelische Armee übernimmt ganz offen die Funktion der
Sicherheitspolizei und jagt potenzielle Feinde bis in ihre
geheimsten Schlupfwinkel; das hindert freilich Sharon nicht
an der routinemässigen Anklage, Arafat und seine
Sicherheitskräfte unternähmen nichts gegen «Terroristen».
Die A-Zonen der vollen Autonomie sind mithin faktisch
abgeschafft.
Zur Erleichterung ihrer Polizeiaufgabe, erklären die Israeli,
hielten sie die Städte umzingelt und kontrollierten
jeglichen Verkehr. Nach einer Kundmachung an die
westlichen diplomatischen Vertretungen in Ramallah will
die Armee besondere Reisegenehmigungen auch für die
Bewegungen von einer Palästinenserstadt zur anderen
einführen. Lokales Personal von Hilfsorganisationen,
darunter die in die Tausende gehende Belegschaft des
Uno-Flüchtlingshilfswerks Unrwa, müssten sich dieser
Regelung unterziehen, möglicherweise sogar Diplomaten.
Das verspricht zumindest gewaltige bürokratische
Komplikationen und Verzögerungen. Auch der Gazastreifen
wurde militärisch in zwei Teile getrennt, und vom
Westjordanland aus ist er überhaupt nur noch in
Ausnahmefällen erreichbar. Zurzeit erteilt die Armee keine
Genehmigungen, womit die meisten Bewohner in ihren
Städten festsitzen.
Stiller Transfer?
Um die Palästinenser Cisjordaniens ist es heute viel
schlechter bestellt als unter der direkten Militärbesetzung,
die bis 1994 dauerte: Damals konnten sie sich allgemein
frei zwischen ihren Ortschaften bewegen. Aus jener Epoche
rührt etwa die Organisation des Gesundheits- und
Erziehungssystems mit Aussenstellen in den mittleren
Ortschaften, welche auf die tägliche Zusammenarbeit mit
den städtischen Zentren angewiesen sind. Heute finden
sich die Verwaltungszweige der Autonomiebehörden und
die auf sie angewiesenen Bürger in einer verzweifelten
Lage, da der Katzensprung bis zur nächsten Zentrale im
Hauptort zu einer Tagesreise voller Ungewissheiten
geworden ist. Nach Berichten medizinischer Hilfswerke sind
bereits zwei Patienten gestorben, weil sie infolge der
Armeesperren das Spital und die rettende Behandlung
nicht erreichen konnten.
Auch der Güterverkehr zwischen den Ortschaften soll sich
nach der israelischen Ankündigung im Umladeverfahren
von einem Fahrzeug auf das andere vollziehen, genauso
wie früher an der Grenze zu Jordanien und zwischen Israel
und den besetzten Gebieten. Ein Journalist in Hebron
schreibt: «Das Fernziel dieser Unterteilung Cisjordaniens in
acht eigentliche Bantustans ist, was ein israelischer
Beamter neulich den ‹stillen Transfer› nannte: den
Palästinensern das Leben derart schwer zu machen, dass
sie aus freien Stücken haufenweise auswandern.»
Was sind die Vorgaben für die Reformen?
Arafat und seine Verwaltung stehen mit ihrem
Reformvorhaben mit dem Rücken zur Wand, weil Sharon
überhaupt keine politischen Verhandlungen führen will,
bevor nicht die bewaffneten Angriffe der Palästinenser
völlig aufhören und die Behörden reformiert sind.
Präsident Bush hat die Reform-Bedingung nun auch als
Vorleistung für eine mögliche Nahost-Friedenskonferenz
übernommen. Internationale Politiker blicken wohl nicht
weiter als bis zur Neubestellung der Führungsspitze und
Demokratisierung. Doch worauf sollen sich umfassende
Reformen des Verwaltungsapparats ausrichten, wenn die
politische Ordnung für Cisjordanien einzig dem Gutdünken
israelischer militärischer Planer anheim gestellt ist? Die
palästinensische Bevölkerung scheint, nach jüngsten
Meinungsumfragen zu schliessen, beschränkte Lehren aus
dem Krieg gezogen zu haben. So ist die Unterstützung für
Selbstmord- Operationen gegen Zivilisten in Israel von 58
Prozent auf 52 der Befragten zurückgegangen; der
Hamas-Führer Scheich Yassin bot entsprechend einen
Verzicht auf diese «Märtyrer-Operationen» an, falls Israel
keine palästinensischen Zivilisten mehr angreife. In der
Umfrage sprachen sich zwei Drittel der Angesprochenen für
eine friedliche Regelung und Koexistenz mit Israel aus,
doch erwarten nur 17 Prozent baldige Unterhandlungen
und Lösungen.
28. Mai 2002, Neue Zürcher Zeitung
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG
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