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    Artikel  NZZ  17. Mai 2001  

 

Schleichende Eskalation im Palästinakonflikt

Erneut feste israelische Stellungen im Autonomiegebiet

Israels Armee hat ihre Strategie harter Schläge in Gaza und Cisjordanien fortgeführt. Am Donnerstag nahm sie einige Stellungen in den Autonomiegebieten im Gazastreifen ein. Palästinensische und israelische Verantwortliche drohten mit weiterer Eskalation.

vk. Limassol, 17. Mai

In einem Prozess wechselseitiger Eskalation der Gewaltanwendung und militanter Rhetorik driften Israeli und Palästinenser zusehends weiter auseinander, was eine Rückkehr zu Friedensverhandlungen immer schwieriger macht. In der Nacht auf Donnerstag beschossen israelische Kampfhelikopter Ziele in Jabalia und in Jenin. In Jabalia, im nördlichen Gazastreifen, kam ein Posten der Polizeikräfte mit 14 Raketen unter Beschuss, dabei wurden vier Gebäude zerstört und mindestens 14 Palästinenser verletzt. In Jenin im nördlichen Westjordanland zerstörten israelische Helikopter mit 12 Raketen ein Gebäude des Sicherheitsdienstes, wobei auch zwei zivile Wohngebäude zu Schaden kamen. Am Donnerstagmorgen begann die Artillerie mit dem Beschuss des Flüchtlingslagers von Khan Yunis, und Bulldozer zerstörten Häuser und Plantagen. Vier Personen wurden verletzt. In Rafah walzten Planierraupen einige Treibhäuser nieder.

Ausgreifende Sicherheitszonen in Gaza

Am Mittwoch hatte die israelische Armee eine Milchfarm in der Nähe der jüdischen Siedlung Kfar Darom im autonomen Teil des Gazastreifens für einige Stunden besetzt. Am Donnerstag meldete die Armee, sie errichte eine Anzahl fester Stellungen innerhalb der Autonomiegebiete. Der Militärsprecher präzisierte am Donnerstag auf Anfrage, es handle sich zurzeit um ein oder zwei mehrstöckige Gebäude an der Zufahrtsstrasse des jüdischen Siedlungsblocks Gush Kativ. Die Präsenz einiger Soldaten auf dem Dach sei als «temporär und für eine gewisse Zeitspanne» zu verstehen, nicht als permanent. Israelische Beobachter versichern, es gebe keine israelische Strategie der Wiederbesetzung autonomer Gebiete. Palästinensische Journalisten aus Gaza melden die Präsenz israelischer Soldaten in rund zehn Gebäuden innerhalb der Autonomiezone. Der allgemeine Eindruck ist der, dass die Streitkräfte mit ihrer ausgreifenden Strategie der leer geräumten Sicherheitszonen rund um die jüdischen Siedlungen nun allmählich in die Autonomiegebiete der Kategorie A vordringen, weil sie die Angriffe der Palästinenser auch unter Beizug von Flug- und Panzerwaffe sowie Kanonenbooten nicht unterdrücken können.

Der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde, Arafat, sagte am Donnerstag, Israel betreibe eine Strategie der Eskalation des Konflikts, um die Palästinenser mit Gewalt unterzukriegen. Doch das Volk werde nicht nachgeben. Der Kabinettssekretär Abderrahman meinte, die Palästinenser würden ihrerseits den Kampf intensivieren, um die massiven Schläge der Besetzer zu erwidern. Unterdessen erklärte der israelische Sicherheitsminister Landau, der jüdische Staat erhöhe seine militärische Aktivität in Reaktion auf terroristische Schritte der Palästinenserbehörden, doch werde schliesslich ein Kampf mit allen Mitteln wohl unausweichlich sein. Nach siebeneinhalb Monaten der Aksa-Intifada sind nahezu allnächtliche Raketenangriffe auf palästinensische Ziele, kurze Vorstösse gepanzerter Einheiten in die Autonomiezone zur Zerstörung von Kasernen, Kontrollposten, Wohnbauten und Plantagen zur Routine geworden. Die Palästinenser setzen ihrerseits ihre Volksproteste fort, weiter Feuerüberfälle auf Posten und Fahrzeuge der Armee und der jüdischen Siedler und wenig zielgenaue Angriffe mit selbst gebauten Granatwerfern im und um den Gazastreifen. Der palästinensische Gesundheitsminister Zaanun nannte am Mittwoch die erschreckende Gesamtzahl von 26 000 Verletzten und forderte medizinische Unterstützung. Die Zahl der Todesopfer liegt knapp über 500, rund 80 von ihnen israelische Juden.

«Bereitschaft Israels zur Gewalt»

Der Bericht der internationalen Mitchell-Erkundungskommission teilt bewusst keine Schuld am Auslösen der Gewaltspirale zu. Er hält jedoch fest, dass weder die israelische noch die palästinensische Seite sich ernstlich bemüht habe, einen Gewaltausbruch noch zeitig einzudämmen. Hingegen unterstreicht die Kommission deutlich, dass der Besuch des damaligen Knesset-Abgeordneten Sharon in Begleitung von rund tausend Polizisten im Moscheenbezirk von Jerusalem provokativen Charakter hatte. Weiter schlug die israelische Armee am folgenden Tag eine Protestkundgebung unbewaffneter Palästinenser sofort mit Kriegswaffen nieder, was die ersten vier Todesopfer und rund 200 Verwundete forderte.

Nach mehreren Monaten des blutigen Konflikts ist festzuhalten, dass der Gebrauch derart schweren Kriegsgeräts gegen Ziele mitten in dicht besiedeltem Palästinensergebiet bei mangelnder Rücksicht auch ungleich viel mehr Opfer fordern könnte. Doch die Rechtfertigung für Raketen und Panzerartillerie an sich in solchen Umständen und in einem derart ungleichen Kräftemessen ist fragwürdig. Die Regierung Sharon erweckt den Eindruck, als ob sie total blind wäre für die Anliegen und Leiden der Palästinenser. So schloss etwa der Tagesbericht des Armeesprechers über die Unterdrückung der Volksproteste am Nakba-Gedenktag vom Dienstag mit der Feststellung, Israel habe keine Opfer oder Schäden zu beklagen. Von den über 120 palästinensischen Verletzten und den vier tödlichen Opfern des Gewehrfeuers der Armee kein Wort. Der Regierungssprecher Raanan Gissin kommentierte mit unüberhörbarem Hohn den Gedenktag «der sogenannten Katastrophe von 1948, die darin lag, dass die Araber uns damals nicht vernichten konnten». Von der Dreiviertelmillion Palästinaflüchtlinge kein Wort. Dem entspricht ein zunehmend inflationärer Gebrauch des Attributes «terroristisch» für jede bewaffnete Aktivität der Palästinenser, auch wenn sich die Mehrheit der Angriffe eindeutig gegen Soldaten im Dienst oder gegen jüdische Siedler richten, die mit Waffengewalt eine völkerrechtlich illegale Präsenz in den besetzten Gebieten aufrechterhalten.

Das IKRK fordert den Schutz von Kindern

Genf, 17. Mai. (sda) Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat sich am Donnerstag in Genf äusserst besorgt darüber geäussert, dass bei den Kämpfen zwischen Israeli und Palästinensern weiterhin Jugendliche und sogar Kinder ermordet werden. Die Organisation verurteilte den absichtlichen Charakter solcher Angriffe. Die Morde an Kindern sind für das IKRK das Resultat eines willkürlichen und unverhältnismässigen Gewalteinsatzes. Das humanitäre Völkerrecht sehe speziell den Schutz der Kinder vor Gewalt vor, erinnerte das IKRK. Es müsse alles unternommen werden, um zu vermeiden, dass Kinder Angriffen ausgesetzt seien.

 

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 18. Mai 2001, Nr.114, Seite 1

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