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Schleichende Eskalation im Palästinakonflikt
Erneut feste israelische Stellungen im Autonomiegebiet
Israels Armee hat ihre Strategie harter Schläge
in Gaza und Cisjordanien fortgeführt. Am Donnerstag nahm sie einige
Stellungen in den Autonomiegebieten im Gazastreifen ein. Palästinensische
und israelische Verantwortliche drohten mit weiterer Eskalation.
vk. Limassol, 17. Mai
In einem Prozess wechselseitiger Eskalation der
Gewaltanwendung und militanter Rhetorik driften Israeli und Palästinenser
zusehends weiter auseinander, was eine Rückkehr zu Friedensverhandlungen
immer schwieriger macht. In der Nacht auf Donnerstag beschossen
israelische Kampfhelikopter Ziele in Jabalia und in Jenin. In Jabalia, im
nördlichen Gazastreifen, kam ein Posten der Polizeikräfte mit 14 Raketen
unter Beschuss, dabei wurden vier Gebäude zerstört und mindestens 14 Palästinenser
verletzt. In Jenin im nördlichen Westjordanland zerstörten israelische
Helikopter mit 12 Raketen ein Gebäude des Sicherheitsdienstes, wobei auch
zwei zivile Wohngebäude zu Schaden kamen. Am Donnerstagmorgen begann die
Artillerie mit dem Beschuss des Flüchtlingslagers von Khan Yunis, und
Bulldozer zerstörten Häuser und Plantagen. Vier Personen wurden
verletzt. In Rafah walzten Planierraupen einige Treibhäuser nieder.
Ausgreifende Sicherheitszonen in Gaza
Am Mittwoch hatte die israelische Armee eine Milchfarm in
der Nähe der jüdischen Siedlung Kfar Darom im autonomen Teil des
Gazastreifens für einige Stunden besetzt. Am Donnerstag meldete die
Armee, sie errichte eine Anzahl fester Stellungen innerhalb der
Autonomiegebiete. Der Militärsprecher präzisierte am Donnerstag auf
Anfrage, es handle sich zurzeit um ein oder zwei mehrstöckige Gebäude an
der Zufahrtsstrasse des jüdischen Siedlungsblocks Gush Kativ. Die Präsenz
einiger Soldaten auf dem Dach sei als «temporär und für eine gewisse
Zeitspanne» zu verstehen, nicht als permanent. Israelische Beobachter
versichern, es gebe keine israelische Strategie der Wiederbesetzung
autonomer Gebiete. Palästinensische Journalisten aus Gaza melden die Präsenz
israelischer Soldaten in rund zehn Gebäuden innerhalb der Autonomiezone.
Der allgemeine Eindruck ist der, dass die Streitkräfte mit ihrer
ausgreifenden Strategie der leer geräumten Sicherheitszonen rund um die jüdischen
Siedlungen nun allmählich in die Autonomiegebiete der Kategorie A
vordringen, weil sie die Angriffe der Palästinenser auch unter Beizug von
Flug- und Panzerwaffe sowie Kanonenbooten nicht unterdrücken können.
Der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde,
Arafat, sagte am Donnerstag, Israel betreibe eine Strategie der Eskalation
des Konflikts, um die Palästinenser mit Gewalt unterzukriegen. Doch das
Volk werde nicht nachgeben. Der Kabinettssekretär Abderrahman meinte, die
Palästinenser würden ihrerseits den Kampf intensivieren, um die massiven
Schläge der Besetzer zu erwidern. Unterdessen erklärte der israelische
Sicherheitsminister Landau, der jüdische Staat erhöhe seine militärische
Aktivität in Reaktion auf terroristische Schritte der Palästinenserbehörden,
doch werde schliesslich ein Kampf mit allen Mitteln wohl unausweichlich
sein. Nach siebeneinhalb Monaten der Aksa-Intifada sind nahezu allnächtliche
Raketenangriffe auf palästinensische Ziele, kurze Vorstösse gepanzerter
Einheiten in die Autonomiezone zur Zerstörung von Kasernen,
Kontrollposten, Wohnbauten und Plantagen zur Routine geworden. Die Palästinenser
setzen ihrerseits ihre Volksproteste fort, weiter Feuerüberfälle auf
Posten und Fahrzeuge der Armee und der jüdischen Siedler und wenig
zielgenaue Angriffe mit selbst gebauten Granatwerfern im und um den
Gazastreifen. Der palästinensische Gesundheitsminister Zaanun nannte am
Mittwoch die erschreckende Gesamtzahl von 26 000 Verletzten und
forderte medizinische Unterstützung. Die Zahl der Todesopfer liegt knapp
über 500, rund 80 von ihnen israelische Juden.
«Bereitschaft Israels zur Gewalt»
Der Bericht der internationalen
Mitchell-Erkundungskommission teilt bewusst keine Schuld am Auslösen der
Gewaltspirale zu. Er hält jedoch fest, dass weder die israelische noch
die palästinensische Seite sich ernstlich bemüht habe, einen
Gewaltausbruch noch zeitig einzudämmen. Hingegen unterstreicht die
Kommission deutlich, dass der Besuch des damaligen Knesset-Abgeordneten
Sharon in Begleitung von rund tausend Polizisten im Moscheenbezirk von
Jerusalem provokativen Charakter hatte. Weiter schlug die israelische
Armee am folgenden Tag eine Protestkundgebung unbewaffneter Palästinenser
sofort mit Kriegswaffen nieder, was die ersten vier Todesopfer und rund
200 Verwundete forderte.
Nach mehreren Monaten des blutigen Konflikts ist
festzuhalten, dass der Gebrauch derart schweren Kriegsgeräts gegen Ziele
mitten in dicht besiedeltem Palästinensergebiet bei mangelnder Rücksicht
auch ungleich viel mehr Opfer fordern könnte. Doch die Rechtfertigung für
Raketen und Panzerartillerie an sich in solchen Umständen und in einem
derart ungleichen Kräftemessen ist fragwürdig. Die Regierung Sharon
erweckt den Eindruck, als ob sie total blind wäre für die Anliegen und
Leiden der Palästinenser. So schloss etwa der Tagesbericht des
Armeesprechers über die Unterdrückung der Volksproteste am
Nakba-Gedenktag vom Dienstag mit der Feststellung, Israel habe keine Opfer
oder Schäden zu beklagen. Von den über 120 palästinensischen Verletzten
und den vier tödlichen Opfern des Gewehrfeuers der Armee kein Wort. Der
Regierungssprecher Raanan Gissin kommentierte mit unüberhörbarem Hohn
den Gedenktag «der sogenannten Katastrophe von 1948, die darin lag, dass
die Araber uns damals nicht vernichten konnten». Von der
Dreiviertelmillion Palästinaflüchtlinge kein Wort. Dem entspricht ein
zunehmend inflationärer Gebrauch des Attributes «terroristisch» für
jede bewaffnete Aktivität der Palästinenser, auch wenn sich die Mehrheit
der Angriffe eindeutig gegen Soldaten im Dienst oder gegen jüdische
Siedler richten, die mit Waffengewalt eine völkerrechtlich illegale Präsenz
in den besetzten Gebieten aufrechterhalten.
Das IKRK fordert den Schutz von Kindern
Genf, 17. Mai. (sda) Das Internationale Komitee vom
Roten Kreuz (IKRK) hat sich am Donnerstag in Genf äusserst besorgt darüber
geäussert, dass bei den Kämpfen zwischen Israeli und Palästinensern
weiterhin Jugendliche und sogar Kinder ermordet werden. Die Organisation
verurteilte den absichtlichen Charakter solcher Angriffe. Die Morde an
Kindern sind für das IKRK das Resultat eines willkürlichen und unverhältnismässigen
Gewalteinsatzes. Das humanitäre Völkerrecht sehe speziell den Schutz der
Kinder vor Gewalt vor, erinnerte das IKRK. Es müsse alles unternommen
werden, um zu vermeiden, dass Kinder Angriffen ausgesetzt seien.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 18. Mai 2001, Nr.114,
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