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   Artikel  NZZ  22. Juni 2001  

Der Konflikt um Palästina gerät außer Kontrolle

Dauerkonfrontation ohne realistische Verhandlungsziele?

Von Lothar Rühl*

Auch nach der vom CIA-Direktor Tenet vermittelten fragilen Waffenruhe ist eine konkrete Perspektive für einen Verhandlungsfrieden zwischen Israeli und Palästinensern bis heute nicht in Sicht. Weder die Regierung Sharon noch die palästinensische Führung unter Arafat signalisieren die Bereitschaft zu unumgänglichen Konzessionen.

Ein knappes Jahr nach der Einleitung der grossen Sommer-Verhandlung zwischen Barak und Arafat in Camp David unter der drängenden Vermittlung Clintons hat sich die Friedenssuche zwischen Israel und der PLO einmal im Kreise gedreht. Konzessionen für einen historischen Kompromiss wurden vom israelischen Premier angeboten, von Arafat am Ende nicht akzeptiert und von Barak, der weiter gegangen war als je ein israelischer Politiker gegenüber der PLO, wieder annulliert. Amerikanische «Synthesen» der provisorischen Verhandlungsresultate, die alle Punkte der Übereinstimmung festhielten, wurden später in der blutigen Krise der «Aksa-Intifada» von beiden Kontrahenten als Grundlagen für ein Friedensabkommen vorgelegt und wieder zurückgezogen. Zeit wurde verloren, der Blutzoll stieg auf mehr als 600 Todesopfer allein seit September 2000. Boden wurde von keinem der beiden Kontrahenten gewonnen, aber die Schwelle zum offenen Krieg von beiden betreten, und der Absturz der Politik in Krieg droht von jedem grösseren Terroranschlag oder Strassenkampf.

Nach Arafats Nein zu Baraks Offerte

Krieg führen könnte nur Israel, aber zu einem Kleinkrieg aus dem Untergrund sind die palästinensischen Aktivisten fähig. Doch ist die Strategie des begrenzten Konflikts mit kontrollierter Eskalation der Gewalt zur Unterstützung der eigenen Verhandlungsführung auf beiden Seiten an ihrem Ende angelangt, wie die Politik des Abwartens zur Zermürbung des Gegners. Ihre Fortsetzung würde die Radikalisierung antreiben, damit den Terror der Feinde des Friedens, die im palästinensischen Lager auch die islamistischen und radikalen Feinde Arafats sind, stärken und der gewalttätigen Anarchie die Strasse überlassen. Darauf wirkt der Scheich Yassin hin, den Israels Gegenschläge nicht treffen und dessen Hamas die internationale Verurteilung des Terrors gegen Israel leicht tragen kann.

In Arafats Fatah ist diese Radikalisierung unübersehbar - längst hat sich die Intifada verselbständigt; sie ist kaum noch als Mittel der Politik zu nutzen, weil sie ihrem eigenen Gesetz der Gewalt folgt und von ihrer Dynamik getrieben wird, auch wenn die zentrale Führung die Bremse zieht, um sich selber international nicht zu isolieren. Für Arafat, der die «Aksa-Intifada» mitverursachte, wenn nicht sogar befahl, wird der Terror, den er wahrscheinlich nicht zu verantworten hat, zu einer gefährlichen Last und die Intifada zu einem Risiko, das er nicht mehr kontrolliert.

Der Versuch des israelischen Regierungschefs Barak im vergangenen Jahr, einen Durchbruch in der Verhandlung zu einer umfassenden Friedensregelung unter Zeitdruck und amerikanischen Pressionen auf Arafat bei substanziellen israelischen Konzessionen zu erzielen, scheiterte an der PLO-Führung. Seither wirkt die Zeit keinem der beiden Kontrahenten mehr zum Vorteil, denn der fundamentale Antagonismus der beiden Volksseelen droht alle Kalkulationen und Finessen für einen Verhandlungsfrieden zu zerstören und sich jeder politischen Kontrolle zu entziehen. Baraks Nachfolger Sharon urteilte darüber nach seiner Wahl am 7. März: «Baraks Versuch, ein umfassendes definitives Abkommen durch Konzessionen zu erreichen, schlug fehl, weil Arafat davon nur ermutigt wurde, noch mehr zu verlangen. Dieser Weg führt nicht zum Ziel und muss verlassen werden.»

Kein Kraut gegen den Terror?

Doch die israelischen Schläge, mit denen die Regierung Sharon palästinensische Gewaltakte bis vor kurzem unverzüglich beantwortete, treffen die eigentlichen Terrorzellen im Untergrund nicht, auch nicht die Zentralen der Organisation Hamas und Islamischer Jihad, die ihre jugendlichen Selbstmordattentäter nach Israel schicken. Die Schläge treffen vor allem die Orte, aus denen auf Israeli geschossen wird und damit deren Einwohner, die sich mit den Terroristen gegen Israel solidarisieren. Die PLO fordert dabei wie Hamas den bedingungslosen Abzug des israelischen Militärs, die Aufhebung der Sperren und freien Zugang für palästinensische Arbeiter und Händler nach Israel, wohl wissend, dass dies auch freie Bahn für Terroristen bedeutet. Wenn diese Position nicht verändert wird und die Situation andauert, wird der Weg zum Frieden blockiert bleiben.

Am Ende bleibt in solchen Fällen zumeist nur die radikale Lösung des Trennungsschnitts wie 1962 in Algerien und 1964 auf Zypern - in Algerien mit der Flucht und Vertreibung von fast einer Million Europäern. Für Palästina bedeutete der Schnitt die Auflösung der meisten israelischen Siedlungen jenseits der «grünen Linie» von 1948-67, denn umfangreiche israelische Annexionen würden nicht vereinbart werden können, und ein einseitiger Rückzug Israels auf eine ausgeweitete Grenzlinie würde keine arabische und also keine internationale Anerkennung finden, damit auch weder Frieden noch Sicherheit bringen.

Eine Parallele besteht heute zwischen Palästina und Libanon, wo der überhastete israelische Rückzug aus der Sicherheitszone Südlibanons mit der Preisgabe der christlichen Verbündeten das verführerische Fanal eines «Endkampfes» der schiitischen Hizbullah-Miliz gegen Israel setzte, mit einer vermeintlich nahen Aussicht auf einen «Sieg», den man sich selber in Fernseh-Demonstrationen vorspielte. Hier liegt die Hauptursache für die Eskalation der «Al-Aksa-Intifada», zu der Sharons Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg vor den Moscheen im September 2000 nur den letzten Anstoss gab. Seither beherrscht die Konfrontation weitgehend die Politik, und die kritische Sicherheitsfrage drängt die politischen Verhandlungsfragen an den Rand.

Arafats erschütterte Autorität

Die Bush-Administration kann wie vor ihr die Clinton-Administration im Herbst und Winter 2000 nur versuchen, diese verschüttete Basis freizuräumen. Daher die Entsendung des Chefs der CIA mit dem Ziel, die Sicherheitskooperation zwischen den beiden Kontrahenten, der Autonomiebehörde in Palästina und der Regierung Israels, wiederherzustellen. Darum war es auch seit dem Oktober 2000 bis zur israelischen Wahl vor allem gegangen, nicht wirklich um Friedensverhandlungen. Der Zweck kann zunächst nur in der Kontrolle der Situation und in der aktiven Abwehr des Untergrundterrors liegen, um weitere grosse Provokationen zu verhindern, die die schon ausser Kontrolle geratene Eskalation vorantreiben und die Bereitschaft der Bevölkerungen zu einem Frieden vollends zerstören würden.

Die Stellung Arafats an der Spitze seiner Kampforganisation Fatah und der PLO ist erschüttert und im Untergrund der terroristischen Kampfgruppen wie Hamas und Islamischer Jihad, die in Konkurrenz zu ihm stehen und einen Machtkampf führen, ausgehöhlt, so dass sie jederzeit unter dem Druck der Ereignisse und der Last politischer Verantwortung für Konzessionen an Israel einbrechen könnte. Das Verhalten einiger Fatah-Aktivisten zeugt davon. Zudem können die Anführer sich von Arafats Ziel, möglichst bald einen unabhängigen souveränen Staat zu gründen, entfernen und mit ihrer Maximalforderung auf Rückgabe «allen arabischen Landes in Palästina an die rechtmässigen Eigentümer», wie die Kampfparole lautet, jede Einigung mit Israel verhindern.

Die Illusion solcher Maximalforderungen nimmt den Parolen nichts von ihrer vehementen Durchschlagskraft auf die Vorstellungen der Palästinenser: Drei Viertel der Bevölkerung im Westjordanland sprechen sich derzeit für die Fortsetzung des «Befreiungskampfes» gegen Israel aus. Die von der «Aksa-Intifada» herbeigeführte akute Krise hat die Motivation der arabischen Massen blossgelegt: Mit der Besetzung arabischen Bodens ist in ihren Augen Israel der ständige Aggressor seit 1948 und wegen der militärischen Besetzung eines Teils des Westjordanlands der Verursacher der Gewalt, also auch der Terrorakte in Israel selber wie des jüngsten in Tel-Aviv. Dies ist auch die alltäglich ausgegebene Parole der PLO.

So hat die psychologische Eskalation die militärische und jede kohärente Politik hinter sich gelassen. Terror und Repression sind die jeweils akzeptierten Mittel der Konfrontation geworden, die der Politik immer weniger Raum lassen. In diesem Sinne tendiert die Gewalt zum Krieg, den zu verhindern immer schwerer sein wird, weil die Alternative nur in gegenseitigen Konzessionen liegen kann, die angesichts der Todesopfer auf beiden Seiten als immer sinnloser und ungerechter erscheinen.

Israel könnte natürlich das teilweise geräumte Autonomiegebiet wieder besetzen und abriegeln. Armee und Polizei könnten dann versuchen, den politisch-terroristischen Untergrund auszuräumen und müssten dabei wieder unzählige Gefangene machen. Aber würden sie Kollaborateure finden, nachdem diese mit dem Tod bedroht worden sind? Hier wirkt der Rückzug aus Südlibanon abschreckend nach: Ohnehin könnten die israelischen Soldaten nicht dauernd bleiben. Die Palästinenser könnten ihre Intifada nach einer Periode der konsequenten israelischen Repression wieder aufnehmen. Verändert wäre das Problem für beide Seiten im Grunde nicht, denn keine könnte ihr Ziel erreichen.

Israels Politik der Stärke

Auch die physische Trennung Israels von den Palästinensern, die Barak schon vor seiner Zeit als Regierungschef 1998 als einzig haltbare Lösung in Aussicht nahm, setzt Sicherheit vor Terror bei offenen Grenzübergängen für Handel und Wandel, vor allem für die palästinensischen Arbeiter in Israel und die Auflösung der jüdischen Siedlungen voraus, die nicht ohne grosse Annexionen mit Israel verbunden werden könnten.

Also hat auch eine israelische Politik der Stärke, gestützt auf militärischen Druck, kein erreichbares politisches Ziel, solange Israel seine territorialen Zielsetzungen nicht für eine kompakte Konsolidierung um Jerusalem zurücknimmt, die einem palästinensischen Staat die Kontrolle über sein Gebiet und genügend Raum für seine Bevölkerung und Wirtschaft liesse. Der territoriale Status quo lässt dies nicht zu. Arafat hat in dieser Lage die politische Ziellinie zusammen mit der Kontrolle über die Entwicklung im eigenen Lager schon nahezu verloren. Die Kontrolle kann nur noch von einer Internationalisierung des Konflikts über die amerikanische Vermittlung hinaus wieder instand gesetzt werden, eine Verhandlungsposition zu beziehen und zu halten.

Ob dies dann zum Frieden führen würde, bleibt eine offene Frage, denn die politischen Möglichkeiten wurden in Camp David ausgeschöpft, und es bleibt nur, sie wieder auf die Agenda zu setzen, von der sie zuerst Arafat unter dem Druck seiner Hardliner, später dann Sharon auf israelischer Seite gestrichen hat. In Wahrheit bleibt nur die Politik Baraks, den die israelischen Wähler nach seinem Misserfolg in der Wahl desavouiert haben. Aber diese Politik braucht auf palästinensischer Seite einen Partner, der sie wieder aufnimmt und nach allem, was geschehen ist, politisch im eigenen Lager durchsetzen kann. Die arabischen Regierungen von Kairo und Amman bis Riad können dabei wenig helfen. In Israel ist für das komplementäre Kunststück derzeit niemand zu sehen, dem das Volk das Mandat dazu gäbe.

* Der Autor ist Publizist und ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 20. Juni 2001, Nr.140, Seite 7
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