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    Artikel  NZZ  21. November 2001  

Israels Strafexpedition nach Bethlehem

Ein Augenschein nach dem Abzug der Truppen

Am 18. Oktober rückte die israelische Armee ins autonome palästinensische Gebiet von Bethlehem im Westjordanland vor. Als sie nach zehn Tagen wieder abzog, liess sie über 20 Todesopfer und grosse materielle Schäden zurück. Wie ein Augenschein zeigt, hatte die Operation wohl vor allem die Einschüchterung der Bevölkerung zum Ziel.

jbi. Bethlehem, im November

Das Rathaus von Beit Jala liegt im Zentrum des Städtchens; in seinem Erdgeschoss ist ein Café untergebracht, vor dem ein paar junge Männer herumlungern. An den Türen des Cafés und am Eingang zur Stadtverwaltung kleben Plakate, auf denen grimmig dreinblickende junge Männer ein Gewehr in den Armen halten, Fotos von Personen, die beim Einmarsch der israelischen Armee im letzten Monat getötet wurden. Auf zwei Fotos aber ist keine Waffe zu sehen; eines zeigt einen schüchtern aussehenden jungen Mann, das andere eine junge Frau, die für den Photographen etwas Schminke aufgelegt und das Haar toupiert hat. Sechs Einwohner, klagt der Bürgermeister in seinem Büro, hätten die Israeli während der zehntägigen Besetzung im letzten Monat erschossen, unter ihnen den schüchternen jungen Mann auf dem Plakat, der in seinem Haus von einer Kugel getroffen worden sei, und die junge Frau, die sich auf die Strasse gewagt habe, um Milch für ihre beiden kleinen Kinder zu holen.

Schusswechsel übers Tal

Im November und Dezember 1995 waren die israelischen Truppen auf Grund des im Rahmen des palästinensisch-israelischen Friedensprozesses geschlossenen und «Oslo II» genannten Abkommens aus sechs Bevölkerungszentren des Westjordanlands abgezogen, darunter aus Beit Jala und dem benachbarten Bethlehem. Am 19. Oktober 2001 rückten die israelischen Truppen in sechs palästinensische Enklaven, aus denen sie einst abgezogen waren, wieder ein. Einige Tage vor dem israelischen Einmarsch war der israelische Tourismusminister Zeevi von palästinensischen Attentätern in einem Jerusalemer Hotel erschossen worden. Daraufhin forderte Israel die palästinensische Autonomiebehörde auf, die Schuldigen zu finden und auszuliefern. Als dies nicht geschah, setzte Ministerpräsident Sharon die Armee in Bewegung. Der Grund für den Einmarsch in Beit Jala lag jedoch weniger im Anschlag auf den Minister als im monatelangen Schusswechsel zwischen dem palästinensischen Städtchen und der israelischen Siedlung Gilo, die jenseits eines tiefen Tals auf einem Hügel gegenüber liegt. Palästinensische Schützen hatten die Wohnblöcke (und die israelischen Stellungen) von Gilo immer wieder beschossen; die Israeli hatten mit gleichem, aber auch bedeutend schwererem Geschütz geantwortet. 50-mal sei seine Stadt seit Anfang dieses Jahres von Panzern und Maschinengewehren beschossen worden, berichtet der Bürgermeister, 1088 Häuser seien beschädigt und 30 ganz zerstört worden. Auf die Frage, warum denn von Beit Jala aus auf Gilo geschossen werde, hebt der Bürgermeister die Arme: «Wir leben unter einer Besatzungsmacht. Kann ich unsere Jungen daran hindern, gegen die Besetzung Widerstand zu leisten?» Ursprünglich umfasste das Gemeindegebiet von Beit Jala 14 000 Dunum, sagt der Bürgermeister, und dazu gehörte auch der Hügel, auf dem heute Gilo liegt. Dort befanden sich die Steinbrüche, in denen der rosarote Stein abgebaut wurde, der eine Stütze der lokalen Wirtschaft war. Zwischen 1972 und 1978 wurde das Land konfisziert, um darauf Gilo und die Strasse zur Umfahrung Bethlehems zu bauen. Die Fläche, welche die Einwohner von Beit Jala heute nützen können, umfasst gerade noch 4500 Dunum.

Mit dem Panzer durch den Laden

Wenig hinter dem Gemeindehaus windet sich die Strasse in das Tal hinunter, das Beit Jala von Gilo trennt. Beinahe jedes Haus entlang der Strasse ist beschädigt, die eisernen Fensterläden haben Löcher, in den Mauern die Einschläge von Granaten. Am östlichen Talausgang liegt das Flüchtlingslager al-Azza mit seinen rund 1500 Einwohnern. An der Hauptstrasse gegenüber dem Lager befindet sich das fünfstöckige Paradise Hotel, wo in der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober die Israeli eine Stellung einrichteten, von wo aus sie die eng verschachtelten Häuser des Lagers beherrschten. Die Fassade des Hotels ist brandgeschwärzt, die Fenster sind zertrümmert. Die Metalltüren der Läden gegenüber dem Hotel sind von Kugeln durchlöchert oder eingedrückt; bei einzelnen sind Arbeiter eben dabei, eine neue Tür einzusetzen. Ein Laden ist völlig zerstört, seine Rückwand eingerissen. In den Mauern des Raums dahinter hat die Salve eines Maschinengewehrs auf Kopfhöhe Spuren von Einschlägen hinterlassen. Die Leute erzählen, ein Panzer sei in der Nacht durch den Laden hindurch in das dahinter gelegene Zimmer gefahren, nachdem palästinensische Kämpfer einen Molotowcocktail unter ein Panzerfahrzeug geworfen hätten. Die Familie, die darin geschlafen habe, habe sich eben noch retten können, bevor das Maschinengewehr zu ballern angefangen habe. In einer Lücke in der Häuserreihe ein paar Meter weiter steht ein Zelt; das Haus, das hier gestanden hatte, wurde von den Israeli vollständig zerstört.

Nochmals 50 Meter weiter führt eine enge Strasse in das Lager hinein; die Ecke des ersten Hauses ist offensichtlich von einem Panzer weggerissen worden. Daneben liegt der Kindergarten «Zur Rückkehr», der einzige des Lagers. Gott sei Dank seien die Israeli in der Nacht gekommen, als die Kinder nicht da gewesen seien, meint die Kindergärtnerin. In ihrer Wohnung, die über dem Kindergarten liegt, sind die Wände der Zimmer rauchgeschwärzt und die Möbel von Kugeln durchlöchert. Ihr zwölfjähriger Sohn zeigt den Patronengürtel, den er gebastelt hat: Die Hülsen, die darin stecken, hat der Bub auf der Strasse gesammelt, dann hat er aus den Wänden seines Hauses geklaubte Kugeln sorgfältig in sie eingesetzt. Ein paar Häuser weiter zeigt Umm Yunis die rauchgeschwärzte Stube im ersten Stock ihres Hauses, aus der die zerstörten Möbel bereits fortgeräumt sind. Sie hat die ganze Zeit der israelischen Wiederbesetzung mit ihrer vielköpfigen Familie im Erdgeschoss verbracht; Elektrizität gab es keine mehr, das Telefon war unterbrochen, und aus dem Hahn floss kein Wasser mehr, weil die Israeli die Wassertanks auf den Dächern des Camps durchlöchert hatten. Die ganze Zeit habe sie dafür gebetet, dass die Bücher ihrer Kinder und die von ihr selbst gestickte Karte Palästinas über dem Buffet nicht zerstört würden. Als sie nach dem Abzug der Soldaten wieder hinaufgehen konnte, waren die Bücher unversehrt, aber ihre Stickerei hatte den Brand nicht überlebt. «Gott sei Dank», sagt sie, «wir sind immer noch hier, in Palästina.» Und entschieden fügt sie hinzu: «Hier bleiben wir auch.» Alle Nachbarhäuser, die aus ihrem Stubenfenster zu sehen sind, haben Einschläge von Granaten.

Von 20 Toten sind 15 Zivilisten

Vom Lager fahren wir ins Stadtzentrum von Bethlehem. Vereinzelt steht noch ein zerdrücktes oder ausgebranntes Autowrack am Strassenrand; eine beschädigte Tankstelle da, eine von Schüssen durchlöcherte Stange der Strassenbeleuchtung dort. Die meisten Zerstörungen lassen sich weder als Folgen einer Jagd auf Terroristen noch als Zeichen von Kämpfen zwischen Soldaten und Freischärlern erklären. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass hier die Zerstörungswut von Soldaten am Werk war, die von keiner Disziplin im Zaun gehalten wurden. Dieser Schluss wird auch von einer unvollständigen, vom Lutheranischen Begegnungszentrum von Bethlehem veröffentlichten Liste von Opfern bestätigt. Drei der Toten auf der Liste sind Fatah-Kämpfer, die einige Stunden vor dem israelischen Einmarsch in ihrem Auto bei der Explosion einer wahrscheinlich von den Israeli gelegten Bombe ums Leben kamen. Zwei weitere Opfer sind palästinensische Polizisten, von denen einer bei einem Schusswechsel mit den Israeli ums Leben kam, der andere vor dem Spital von Beit Jala von einer Kugel getroffen wurde. Die restlichen 15 Opfer sind Zivilisten, 4 von ihnen Frauen; 3 Personen wurden in ihrem Haus erschossen, 3 auf der Strasse von Granaten getroffen. Ein 19-Jähriger wurde auf dem Platz vor der Geburtskirche von einer Kugel getroffen, als er nach dem Gottesdienst mit Verwandten plauderte. Immer gemäss der Liste des Lutheranischen Begegnungszentrums verweigerten die israelischen Soldaten einer 30-jährigen Frau in den Wehen, die auf dem Weg ins Spital war, den Zugang zur Stadt; erst als die Geburt an der israelischen Sperre anfing, liessen die Soldaten die Frau durch. Das Kind kam auf dem Weg ins Spital zur Welt und starb wenig später.

Mitri Raheb, der Leiter des Lutheranischen Begegnungszentrums, nennt die zehntägige Besetzung seiner Heimatstadt die schwierigste Zeit seines Lebens. Das Verhalten der israelischen Armee zeige, dass diese Soldaten dazu ausgebildet würden, die Rechte der Palästinenser zu missachten. Was Raheb jedoch vor allem beunruhigt, ist die Wirkung der Gewalt auf die Kinder. Vor der Invasion, erzählt er, hätten sich die Kinder ein Gewehr als Spielzeug gewünscht; heute wollten sie nur noch Panzer. «Was für eine Gemeinschaft werden wir in zehn Jahren haben, wenn dies so weitergeht?», fragt er. Denn die Botschaft der Israeli ist für Raheb klar: Wir können jederzeit wiederkommen. Sharon habe Arafat zeigen wollen, dass die im Friedensprozess gemachten Zugeständnisse auch wieder rückgängig gemacht, dass die autonomen Zonen aufgehoben werden könnten. Laut Raheb zeigt Israel mit der Besetzung der christlichen Symbolstadt Bethlehem, dass es sich weder um die Reaktion der muslimischen Welt auf seine Politik noch um diejenige des Westens kümmert. Frieden, kommt er zum Schluss, bedeute für Israel, die Palästinenser loszuwerden.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 21. November 2001, Nr.271, Seite 7
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