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  Artikel SDZ 12. Februar 2002  

Du trägst fast so viel Verantwortung wie der Premierminister 

„Israels Besatzungspolitik ist zu einer Maschine des Verbrechens und Bösen geworden“:
Ein offener Brief an Schimon Peres
Von Gideon Levy

In den vierundzwanzig Jahren unserer Bekanntschaft, von denen ich vier Jahre als Dein Mitarbeiter tätig war, ist es jetzt das dritte Mal, dass ich Dir einen offenen Brief schreibe. 1989, als Du Finanzminister der Schamir-Regierung warst und die erste Intifada tobte, veröffentlichte ich einen „Brief an einen früheren Vorgesetzten“. Damals schrieb ich, „dass Du zum ersten Mal in Deinem Leben nichts zu verlieren hast – außer der Aussicht, in die Luft gejagt zu werden“. Ich sagte dies, nachdem Du angesichts des Verhaltens der israelischen Armee in der Intifada, angesichts der anhaltenden Besatzung und Israels hartnäckiger Weigerung, die PLO als Vertretung der Palästinenser anzuerkennen, stumm bliebst. Ich ging damals noch davon aus, es fehle Dir einfach der Mut, um die Stimme zu erheben, wenn Du anderer Meinung warst als Yitzhak Schamir und Yitzhak Rabin (damals bekannt als die „Knochenbrecher“). Elf Jahre später, im Jahr 2000, schrieb ich Dir erneut einen offenen Brief. Dies geschah nach dem Oslo-Abkommen und der Ermordung Rabins, und anschließend hast Du erneut eine Wahlniederlage erlitten – diesmal ging’s um die Präsidentschaft. Ich schrieb Dir: „Viele Israelis sehen in Dir inzwischen eine andere Person. Du verkörperst für sie die Hoffnung einer Alternative.“ Und heute, da ich wieder zur Feder greife, bleibt mir nur zu sagen: Du verkörperst die Hoffnung auf gar nichts mehr.

Die Regierung, zu deren wichtigsten Mitgliedern Du als Außenminister zählst, ist nicht länger einfach die letzte Notstands-Regierung in unserer langen Geschichte von Regierungen des Notstandes; sie ist eine Regierung des Verbrechens. Und die Mitwirkung bei diesen Verbrechen ist nun wahrhaftig ein neue Qualität. Es ist nicht länger möglich, mildernde Umstände anzuführen, Deine Verdienste um das Oslo-Abkommen zu würdigen, darauf hinzuweisen, dass auch Dir angesichts der jüngsten Ereignisse das Herz bricht und Du zornig bist über das, was geschieht, selbst wenn Du – aus taktischen Gründen, die niemand besser kennt als Du selbst – darauf verzichtest, das Wort zu ergreifen, Alarm zu schlagen und vor allem zu handeln. 

Nein, Dein Schweigen und Deine Untätigkeit sind inzwischen auf keine Weise mehr zu rechtfertigen. Schimon, Du bist zum Mitwirkenden an Verbrechen geworden. Die Tatsache, dass Dir dies inzwischen selbst klar sein geworden dürfte und Du gelegentlich einige schwache Worte der Verurteilung findest; die Tatsache, dass Du nicht Premierminister bist und dass Amerika der israelischen Regierung eine Blankovollmacht erteilt hat; die Tatsache schließlich, dass die meisten Leute anderer Ansicht sind und dass ein Rücktritt, um „einem Ha’aretz-Journalisten hinterherzulaufen“, wie Du’s nennst, sinnlos wäre – alle diese Ausflüchte laufen im Grunde auf ein und dasselbe hinaus. Du arbeitest weiterhin für eine Regierung, die Blut an ihren Händen hat, die alle Hände voll zu tun hat, um zu töten, um einzusperren und zu erniedrigen, und Du bist der Komplize bei allen diesen Untaten. So wie der Außenminister der Taliban ein Teil des Taliban-Regimes war, so bist Du ein Teil des Scharon- Regimes. Du trägst fast ebenso viel Verantwortung wie der Premierminister. Sie entspricht derjenigen des Verteidigungsministers und Generalstabschefs, deren Taten Du privat mit heftigen Worten kritisierst. Aber immer nur in privaten Gesprächen. 

Du erklärst, dass Du von der Ermordung des Fatah-Aktivisten Raed Karmi, nach drei Wochen palästinensischer Ruhe, erst aus dem Radio erfahren hast. Deiner Ansicht nach genügt dies bereits, um von der Verantwortung für diese Tat zu entbinden oder kritische Stellungnahmen überflüssig zu machen. Als die israelische Armee von neuem Tulkarem besetzte, hast Du Bill Clinton getroffen. Als man eine Stellungnahme von Dir haben wollte, hast Du Unverständliches gemurmelt. Auch als die Häuser in Rafah in Schutt und Asche gelegt wurden, hast Du Dir auf die Zunge gebissen. Man darf annehmen, dass die Zerstörung der Radiostation nicht nach Deinem Geschmack war. Doch Du trägst die Verantwortung für alle diese Dinge, für alle diese Aktionen, die man kaum mit einem anderen Namen bezeichnen kann als mit dem von Kriegsverbrechen. 

Frag’ einmal Deinen Schwager, Professor Rafi Walden, Chefarzt für Chirurgie am Sheba Medical Center, der gelegentlich als Freiwilliger die „Ärzte für Menschenrechte“ in die besetzten Gebiete begleitet: Er kann Dir berichten, an welchen Dingen Du als Komplize mitbeteiligt bist. Er kann Dir von Frauen in den Wehen berichten – und es geht hier nicht bloß um Einzelfälle –, die wegen der Grausamkeit der israelischen Armee, auf die Du einst so stolz warst, nicht bis ins Krankenhaus gelangen können, und deren Neugeborene kurz nach der Geburt sterben. Er kann Dir von Krebspatienten berichten, die gehindert wurden, zur ihrer Behandlung nach Jordanien einzureisen. Nicht einmal nach Jordanien lässt man sie – aus „Sicherheitsgründen“! 

Er kann Dir berichten von den Krankenhäusern in Bethlehem, die durch die israelische Armee zerstört wurden. Er kann Dir berichten von Ärzten und Krankenschwestern, die in der Klinik schlafen müssen, weil sie nicht nach Hause durchkommen. Er kann Dir von Nierenkranken berichten, die stundenlang auf Umleitungsstraßen im Stau stehen, wenn sie dreimal pro Woche verzweifelt versuchen, die Dialyse-Apparate zu erreichen, an denen ihr Leben hängt. Er kann Dir berichten von Menschen, die zuhause gestorben sind, weil sie es nicht wagten, sich den Grenzübergängen zu nähern – die inzwischen aus Riegeln von furchterregenden Panzern gebildet werden oder aus Erd- und Zementhügeln, die sich nicht zur Seite räumen lassen –, auch nicht für jemand, der am Abgrund des Todes steht. 
Ihr habt ein ganzes Volk mehr als ein Jahr lang in Geiselhaft gehalten mit einer Grausamkeit, wie sie in der Geschichte der israelischen Besatzung nie dagewesen ist. Eure Regierung tritt die Rechte von drei Millionen Menschen mit Füßen, denen jeder Anschein eines normalen Lebens verwehrt wird. Der Gang auf den Markt, die Fahrt zur Arbeit, der Weg zur Schule, der Besuch beim kranken Onkel – alles unmöglich. Kein Kommen mehr und kein Gehen mehr. Kein Tag und keine Nacht. Die Gefahr lauert überall, und überall taucht ein neuer Kontrollposten auf, der das Leben erstickt. 
Eine ganze Nation hatte ihre Hand teilweise schon zum Frieden ausgestreckt, und zwar – Du weißt das nur allzu gut – nicht weniger aufrichtig als unsere eigene. Und diese Nation hat den Kelch des Leidens inzwischen bis zur Neige austrinken müssen, von dem Palästina-Krieg 1948, den sie Nakba nennen, die Katastrophe, über die Eroberungen des Sechs-Tage-Krieges 1967 bis zur Dauerbelagerung des Jahres 2002, obwohl die Palästinenser auch nichts anderes anstreben als das, was die Israelis selbst für sich in Anspruch nehmen – ein wenig Ruhe, ein bisschen Sicherheit und ein paar kleine Tribute an den Nationalstolz. Stattdessen erwacht jeden Morgen aufs Neue eine ganze Nation vor einem gähnenden Abgrund an Verzweiflung, Arbeitslosigkeit und Entbehrungen, und nun stehen am Ende dieser Sackgassen auch noch die Panzer... 

Dies alles haben wir Dir bisher immer vergeben – doch damit ist es jetzt vorbei. Jemand, der Mitglied einer Regierung ist, die absichtlich jedes palästinensische Bemühen um eine Beruhigung sabotiert, einer Regierung, welche die Führer der Palästinenser bis aufs Blut demütigt, einer Regierung, deren einziges Motiv inzwischen die Rache geworden ist und die in zynischer Weise die Blindheit und Begriffsstutzigkeit der Welt nach dem 11.September ausnützt, um nach Belieben zu schalten und walten – so jemand kann nicht länger auf unser Verständnis hoffen. Gewiss, Du stimmst nicht allen Plänen dieser Regierung, aber was bedeutet das schon ? Du gehörst dazu – Du wirkst als Helfershelfer, wie bei jedem anderen Verbrechen auch. Ich sehe manchmal, wie Du Reporterfragen über die jüngsten widerwärtigen Regierungsmaßnahmen beantwortest. Dein Gesicht verrät Unbehagen, ja Abscheu. Doch dann gibst Du wieder eine Deiner ausweichenden Antworten. So wie es bei jenem Treffen mit Bill Clinton geschah, wo Du nach der Besetzung von Tulkarem gefragt wurdest und Dir kein Sterbenswörtchen zu entlocken war, weil Du nur gewartet hast, bis die Frage an Dir vorüberging und Du wieder von Frieden und Visionen sprechen konntest. 

Die Zeit ist jetzt reif für aufrichtige, ehrliche, wahrhaftige Antworten – oder gar nichts. Die Zeit ist reif, um zu sagen, dass die Besetzung von Tulkarem eine Torheit und die Zerstörung der Häuser in Rafah ein Kriegsverbrechen war, dass die Ermordung von Raed Karmi erneut Gewaltausbrüche provozieren musste – oder Du bist nicht besser als Ariel Scharon. Es ist jetzt wahrlich nicht die Zeit für Subtilitäten, für versteckte Andeutungen, für kritische Bemerkungen hinter verschlossenen Türen – weil hier draußen, vor der Tür, ein Wirbelsturm heraufzieht, der alles in Schutt und Asche legen kann. 

Soll ich Dir ein Beispiel geben ? Vor kurzem wurdest Du mit einer – wie immer privaten – Äußerung dahingehend zitiert, dass es Dir schwerfalle, die Aktionen der Regierung zu kritisieren, wenn auf Seiten der Vereinigten Staaten eine solche Kritik ausbleibe. Eine wahrhaft ergreifende Ausrede! Was hat denn die Tatsache, dass in den Vereinigten Staaten, die heute über keinen gleichwertigen globalen Gegenspieler mehr verfügen, zufällig gerade üble Politiker an der Regierung sind, die frei schalten und walten können und Israel dieselben Freiheiten einräumen, was hat dies mit Deiner eigenen Position und Prinzipientreue zu schaffen ? Was hat das mit dem Wohl Israels zu tun ? Was hat das zu tun den Grundwerten von Gerechtigkeit und Sittlichkeit ? 

Vielleicht solltest Du einen Tag Urlaub nehmen, was Du so selten tust, und die besetzten Gebiete besuchen. Hast Du jemals den Kontrollpunkt von Qalandiyah gesehen – und hast Du gesehen, was sich da abspielt? Glaubst Du, dass Du Deine Arbeit tun kannst, ohne wenigstens einmal diesen Grenzposten gesehen zu haben? Ist Dir klar, dass Du verantwortlich bist für das, was sich dort abspielt? Ist dir klar, dass jeder Außenminister eines Staates, der solche Kontrollpunkte errichtet, auch für ihre Existenz die Verantwortung trägt? 
Anschließend kannst Du in das Dorf Yamoun gehen und Heira Abu Hassan und Amiya Zakin treffen, die vor vier Wochen ihre Neugeborenen verloren, als die Soldaten der israelischen Armee ihre Fahrzeuge am Kontrollpunkt nicht passieren ließen, während sie bereits in den Wehen waren und bluteten. Hör Dir ihre furchtbaren Geschichten an. Was willst Du ihnen sagen? Dass es Dir leid tut? Dass so etwas niemals hätte geschehen dürfen? Dass so etwas zum Krieg gegen den Terror gehört? Dass es schockierend ist? Oder vielleicht, dass es die Schuld von Generalstabschef Shaul Mofaz ist und Du nichts damit zu tun hast? Der Sprecher der israelischen Armee hat nicht einmal Bedauern über diese beiden Vorfälle ausgedrückt, von einer offiziellen Untersuchung ganz zu schweigen. Er bestätigte lediglich, dass der eine Vorfall stattfand, und hatte für den anderen nur ein Ist-mir-nicht-bekannt übrig. 

Und was ich ebenso wichtig finde: Was willst Du über die Soldaten sagen, die sich in dieser Weise verhalten? Dass es zum Nutzen der nationalen Sicherheit geschieht? Dass die Palästinenser dafür verantwortlich sind? Oder Arafat? Schimon, Du selbst bist es in Wahrheit, der die Verantwortung für den Tod dieser beiden Neugeborenen trägt. Weil Du stumm geblieben bist. Weil Du in dieser Regierung warst, als es geschah.  Wir leben in schrecklichen Zeiten. Doch das Schlimmste kommt erst noch. Die Spirale von Hass und Gewalt hat bei weitem noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Alle Ungerechtigkeiten und alles Böse, das den Palästinenser angetan wurden, werden schließlich auf uns zurückfallen. Ein Volk, das über Jahre hinweg in diesem Ausmaß misshandelt wird, muss eines Tages in einem schrecklichen Wutausbruch explodieren – noch viel schlimmer als das, was wir bisher gesehen haben. Und zu allem Unglück hatten Soldaten die Radiozentrale der Palästinenser gestürmt, haben Sprengsätze gelegt und die Station in Luft gejagt – ohne auch nur eine Sekunde ihr Tun zu hinterfragen. 
Diese Soldaten sind Unglücksboten, Überbringer schlechter Nachrichten – und zwar nicht nur für ihre Opfer, sondern auch für sich selbst. Soldaten, die dutzende von Häusern zerstören, in denen Flüchtlinge wohnen, mit ihren paar Habseligkeiten, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Befehlsverweigerung, wie sie bei solchen offensichtlich illegalen Befehlen eigentlich angebracht wäre, sind keine guten Soldaten – nicht einmal für ihr eigenes Land. Bomberpiloten, die Ziele inmitten bevölkerter Städte bombardieren, Panzerbesatzungen, die ihre Kanonenrohre gegen Frauen richten, die ein Krankenhaus aufsuchen, um mitten in der Nacht zu gebären, oder Polizeioffiziere, die Frauen und Jugendliche misshandeln, lassen das Schlimmste für die Zukunft befürchten. Dies alles steht für einen Kontrollverlust, dessen Ursache in einem totalen Verlust an Orientierung liegt. 

Jawohl, seit einem Jahr sind wir von unserem Kurs abgekommen. Du machst gemeinsame Sache mit einem Premierminister, der Israels dienstältester Kriegshetzer ist, und niemand kann wirklich verstehen, welche Absichten Du damit verfolgst. Angesichts einer gleichgeschalteten Öffentlichkeit hast Du ein leichtes Spiel. Seit ein anderes Mitglied Deiner Partei, Ehud Barak, die Friedensverhandlungen absichtlich scheitern ließ, hast Du faktisch freie Bahn, und Du kannst lassen und tun, was Dir gefällt. Die israelische Armee hat aufgehört, Kriegsverbrechen offiziell zu untersuchen, und der Justizapparat sanktioniert jede Ungerechtigkeit, solange man ihr nur das Mäntelchen der nationalen Sicherheit umhängen kann. Die ganze Welt hat alle Hände voll zu tun, um den Terror zu bekämpfen, die Presse geht in Deckung und die Öffentlichkeit will nichts hören, nicht sehen und nichts wissen. Sie will nur Rache. Und im Schutze dieser Dunkelheit und mit der Unterstützung eines Mannes von Deinem Gewicht ist die Besatzung zu einer Maschine des Verbrechens und Bösen geworden. 

Du wirst mir folgendes antworten: „Was soll ich denn anderes tun? Ich bin nicht zum Premierminister gewählt. Ich wurde auch nicht zum Vorsitzenden der Arbeiterpartei gewählt. Ich bin nicht einmal Verteidigungsminister.“ Du hast recht: In dieser Regierung kannst Du nichts tun. Da hast Du wirklich nichts zu suchen. Du wirst sagen: „Ich habe Einfluss – ich kann mildernd, mäßigend, zügelnd auf den Lauf der Dinge einwirken, oder ich versuche es wenigstens.“ Nonsens. Es könnte kaum schlimmer kommen, als es im Moment steht, und man wüsste gerne, wo Du denn Deinen Einfluss geltend gemacht und vor was „noch Schlimmerem“ Du uns eigentlich bewahrt haben willst? Hättest Du Dir jemals träumen lassen. einer Regierung anzugehören, die völlig ungehindert Teile der Zone A der Autonomiegebiete besetzen würde? 

Stell Dir vor, was geschehen wäre, wenn Du Dich erhoben, von Deinem Ministeramt zurückgetreten und der Welt laut und deutlich erklärt hättest, was Du (vielleicht) tief im Herzen wirklich denkst. Der Träger des Friedensnobelpreises gegen die Verbrechen der Scharon-Regierung! Man stelle sich vor, Du wärest nach Ramallah gegangen, zum belagerten Yassir Arafat, und ihr beide wäret gemeinsam auf die Straße hinaus gegangen, vor die israelischen Panzer getreten und ihr hättet ihren Abzug und einen sofortigen Waffenstillstand gefordert. Der Himmel wären gewiss nicht über uns eingekracht – die Besatzung wäre ebenso wenig aufgehoben worden wie die Abriegelung von Jenin, doch hätte dies die moralische, politische und internationale Unterstützung dieser aktuell unangefochtenen Regierung entscheidend geschwächt. Man stelle sich vor, Du hättest gesagt: Ja, die Häuserzerstörungen sind ein Kriegsverbrechen! Ja, ein Staat, in dem es Attentatslisten für für feindliche „Köpfe“ gibt, ist kein Rechtsstaat! Ja, die Errichtung eines Kontrollpunktes, der den Tod von Menschen verursacht, ist ein terroristischer Akt! Nein, die Palästinenser sind nicht die einzigen, die für das vergossene Blut die Verantwortung tragen! Ja, wir haben einen Generalstab, der eine Gefahr für die Demokratie darstellt! Ja, wir haben einen Verteidigungsminister und Vorsitzenden der Arbeiterpartei, der gleichsam als Regierungsbeamter für Attentate und Hauszerstörungen wirkt. Ja, wir haben einen Premierminister, der von nichts anderem träumt als von Besatzung, Rache, Tötung, Vertreibung und Entwurzelung, der jedenfalls keine anderen politischen Ziele vor Augen hat. 

Das ist es, was Du denkst, oder etwa nicht? Wenn es so ist, dann, um Gottes willen, sag’ es! Wenn aber nicht, dann ist Dein Platz tatsächlich in dieser Regierung, und wir, die wir einst an Dich glaubten, haben einen schrecklichen Irrtum begangen. Bitte erklär’ mir jetzt nicht, dass man Dich wieder einmal zum Prügelknaben macht. Du bist nicht der Prügelknabe. Seit dem Oslo-Abkommen hast Du unsere Hoffnung verkörpert. Und diese Hoffnung liegt jetzt in Scherben. 
Die Zeit ist kurz, Schimon. Nicht nur für Dich, sondern für uns alle. Wir stehen am Rande des Abgrundes. Wenn Du wartest, bis sich auch Benjamin Ben Eliezer, Ephraim Sneh, Dalia Itzik und Konsorten zu einem schlauen Rücktritt- in-letzter-Minute-vor-der-Wahl verschwören, kann es Dir passieren, dass sie Dich geradewegs in die Vergessenheit befördern. Du weißt, dass sie Dich schon eine ganze Weile loswerden wollen. Und selbst wenn Du Dich jetzt endlich zum Widerstand entschließt, kann es durchaus schon zu spät sein. Vielleicht haben die Leute inzwischen die Nase endgültig voll von Dir, und es gibt keinen Ausweg mehr, um den Schaden wieder zu beseitigen, den Scharon angerichtet hat. 

Der einzige Weg für Dich, um Deinem erfolgreichen Leben noch eine weitere bedeutende Leistung hinzuzufügen, besteht jetzt nicht einfach darin, sang- und klanglos das Ministeramt niederzulegen, denn früher oder später wirst dieser Schritt wohl ohnehin fällig sein. Der einzige Weg kann nur ein Rücktritt sein, bei dem Du kein Blatt vor den Mund nimmst und den Israelis reinen Wein einschenkst über das, was sich im Moment hier bei uns abspielt, vor allem über die Verbrechen, die wir mit unseren eigenen Händen begehen. Versuch’ doch noch einmal in Deinem Leben, etwas Neues schaffen – aber keinen Atomreaktor bitte, keine Flugzeugfabrik, davon haben wir schon mehr als genug. Nein, versuche noch einmal, ein radikales israelisches Friedensbündnis aufzubauen. Ich gebe zu, es ist dies ist eine schier unmögliche Aufgabe, fast eine Schöpfung aus dem Nichts. Aber liege ich völlig falsch, wenn ich glaube, dass Du die Dinge immer noch anders siehst als der Rest Deiner Kollegen in der Regierung? Sag’ die Wahrheit, Schimon! 

Der Autor arbeitet als Journalist bei der israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“, in der dieser offene Brief veröffentlicht wurde.  Deutsch von Matthias Grässlin 

Geheimnisvolle Durchgänge, uralte Mauern und wildes Gestrüpp, Zeichen und Graffiti an den Wänden – alles Merkmale, die Kindern gefallen, die sie sich suchen, um
ihre eigene Welt einzurichten. Doch diese Bilder von „Einer Kindheit in Jerusalem“ zeugen von besonderen Umständen, die melancholischer und trister sind, als es sich Kinderträume ausmalen möchten. Die Allgegenwart der Gewalt und kriegerischen Tragödien betäubt jeden Zauber. 


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