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Der Tibet-China Konflikt
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Chinas ewige Schwierigkeiten im Umgang mit Tibet

Mickrige Früchte des rüden Pekinger Kulturimperialismus

Fünfzig Jahre nach der Eroberung von Tibet hat Peking noch immer keinen Weg zur umfassenden Kontrolle der Region gefunden. Viele Tibeter beharren auf ihren Lebensformen und ihrer Religion und verehren den Dalai Lama, was einer impliziten Zurückweisung der vor allem wirtschaftlichen Avancen der Kommunisten gleichkommt.

U. Sd. Peking, Ende Mai

Mit grossem propagandistischen Aufwand hat die kommunistische Führung Chinas Ende Mai den Jahrestag der «Befreiung» Tibets gefeiert. Die Staatszeitungen überschütteten die Führung mit Lob, priesen den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der abgelegenen Region und warnten das Ausland in gewohnter Weise vor Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas. Verschwiegen wurden hingegen die Schwierigkeiten Pekings im Umgang mit Tibet. Anders als etwa in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang, in der die Hanchinesen wohl bereits die Bevölkerungsmehrheit stellen, hat die kommunistische Regierung nämlich noch immer grösste Mühe, Tibet demographisch nach ihren Wünschen umzugestalten. Fünfzig Jahre nach der «Befreiung» stellen die Tibeter in Tibet noch immer die Mehrheit; der Versuch Pekings, das Volk in seinem eigenen Land zur Minderheit zu machen, ist bemerkenswerterweise bis heute gescheitert. Das hat sicher zum grössten Teil mit den widrigen Lebensumständen und der Abgeschiedenheit des Landes zu tun. Daneben aber scheinen die Tibeter die - teilweise beträchtlichen - Bemühungen Pekings zur wirtschaftlichen Förderung der Region auch merklich kühler aufzunehmen als andere ethnische Minderheiten. Zudem sind sie ein religiöses Volk geblieben und weigern sich bis heute, dem Dalai Lama, dem wichtigsten ihrer vielen geistlichen Führer, die Gefolgschaft zu kündigen.

Populärer Dalai Lama

Dass der farbenfroh gekleidete, stets jovial auftretende Dalai Lama ausgerechnet zur Zeit, als die Pekinger Propaganda lautstark die Befreiung der Tibeter von Sklaverei und Feudalismus feierte, in Washington ins Weisse Haus geladen wurde, hat die chinesischen Kommunisten spürbar erbost. (Dass praktisch gleichzeitig der taiwanische Präsident Chen Shui-bian ein Einreisevisum für die USA erhielt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass Präsident Bush weit weniger Rücksicht auf chinesische Empfindlichkeiten nimmt als sein Vorgänger Clinton.) Der Medienoffensive, die die Kommunisten zum 50. Jahrestag des Einmarsches am 23. Mai 1951 veranstalteten, konnten wohl die wenigsten Tibeter viel abgewinnen. Nichts an der farbigen Barrage auf den Frontseiten der Staatszeitungen war neu: nicht der Versuch, die Abschaffung der Leibeigenschaft zur Legitimation der militärischen Aggression zu verwenden, nicht das Verschweigen der tibetischen Aufstände, nicht der Angriff gegen die Politik des Westens, vor allem der USA.

Enorme Rohstoffreserven

Was einst Tibet war, wurde nach bester stalinistischer Manier aufgeteilt und umfasst heute die Autonome Region Tibet sowie Teile der Provinzen Qinghai und Sichuan. Dieses Gebiet macht rund einen Drittel des Territoriums der Volksrepublik aus und birgt enorme Rohstoffreserven, wird aber von nur sechs Millionen Menschen bewohnt. Peking unternimmt seit Jahre Anstrengungen, um die Region wirtschaftlich zu fördern, und zwar mit derselben utilitaristischen Ratio, welche der Entwicklung des Westens generell zugrunde liegt: Man will die Ressourcen nutzbar machen, das Lebensniveau der Bevölkerung verbessern und so den patriotischen Widerstand brechen. Diese Rechnung ist in der Inneren Mongolei, in den Autonomen Regionen Guangxi, Ningxia und sogar in Xinjiang bisher im Ganzen aufgegangen. Nur in Tibet weigert sich ein Grossteil der Einwohner bis heute, die fatalen Segnungen aus dem Füllhorn Pekings mit einem artigen Knicks in Empfang zu nehmen. Autonomie, egal, ob völkerrechtliche oder innerchinesische, ist in Tibet nach wie vor Thema Nummer eins, und die sonnige Intransigenz des Dalai Lama nötigt die rückgratlosen westlichen Staaten, die im Grunde viel lieber mit den Chinesen ins Geschäft kommen möchten, immer wieder zum Eingeständnis, dass es das Problem Tibet gibt und dass die Art und Weise, in der Peking die Region regiert, eines zivilisierten Staates nicht würdig ist.

Am irritierendsten ist bei alledem, dass die Kommunisten allen Ernstes zu hoffen scheinen, der Rest der Welt werde dereinst genauso freudig wie China auf die «Befreiung» Tibets anstossen. Noch immer kaschiert Peking den nackten Imperialismus von damals mit dem Hinweis auf die einstige «Rückständigkeit» des Landes - ungeschickte PR fürwahr, löst sie doch selbst bei linken Sympathisanten des kommunistischen Regimes ungute Gefühle aus. Wenn es westliche Staaten heute wagen, «einheimische Kulturen» wie etwa die Indianervölker des Amazonas entgegen ihrem Willen mit den Segnungen der ersten Welt zu beglücken, hagelt es im allgemeinen Proteste - wer hier stringent bleiben will, kann nicht plötzlich China einen Persilschein ausstellen. Doch selbst wenn man den Anspruch Pekings auf Tibet anerkennt, ist damit noch längst nicht das brutale Regime entschuldigt, mit dem die Han die Tibeter in all den Jahren niedergehalten haben. Nur mit unerbittlicher, von Menschenrechtsorganisationen bestens dokumentierter Repression ist es Peking gelungen, die Region zu kontrollieren. Und der kulturelle Vandalismus, der dabei zur Anwendung kam, sucht seinesgleichen. Dass heute «in den Kriegswirren» zerstörte Tempel wieder aufgebaut werden, hilft da wenig.

Dalai Lama als ewiger Mahner

Überschwemmung Tibets mit Hanchinesen würde nicht nur die Identität der Region als kulturelle Brücke zu Indien zerstören, sondern auch die Beziehungen Chinas zu Südasien gefährden. Tibet ist also ein Streitfall mit durchaus überregionaler Dimension. Der Schlüssel zur Beruhigung der Lage ist aus Pekinger Sicht primär der Dalai Lama. Peking verteufelt ja den unbeirrt strahlenden Mann nicht nur, sondern buhlt gleichzeitig verschämt um seine Gunst, denn ohne seine Autorität, das haben die greisen Staatenlenker in Peking wohl erkannt, ist auf dem Dach der Welt nicht viel auszurichten. Eine Rückkehr des Dalai Lama würde der Legitimität der Kommunisten enormen Auftrieb verleihen. Doch die Ziele des Dalai Lama bleiben vorläufig im Dunkeln verborgen. Seit 42 Jahren zwingt der neben dem Papst wohl bekannteste Religionsführer der Welt eine widerwillige westliche Welt zu einem Minimum an moralischer Stringenz, und es ist sehr wohl möglich, dass er an der Rolle des ewigen Mahners Gefallen gefunden hat. Nicht auszuschliessen ist auch, dass ihm an der Verbreitung des Buddhismus auf der ganzen Welt mehr liegt als an einer Bereinigung der Lage in Tibet; vielleicht ist er zum (wohl realistischen) Schluss gekommen, unter den gegenwärtigen Bedingungen sei mit hartem, grundsätzlichem Protest und der Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit statt nach Autonomie sowieso nicht viel auszurichten. Dass der Dalai Lama von der Möglichkeit gesprochen hat, seine Reinkarnation könne auch ausserhalb Tibets geboren sein, hat die Experten aufhorchen lassen. Wird ein westlicher Junge Nachfolger des Dalai Lama, wäre dies vor allem für Europa und die USA attraktiv und würde die Lage Pekings weiter komplizieren.

Gescheiterte Bestechungstaktik

Nicht, dass die Kommunisten im Bemühen um eine Befriedung Tibets passiv geblieben wären. Man hat einiges versucht und beispielsweise die Praxis der aktiven Bekämpfung religiöser Bewegungen in den achtziger Jahren eingestellt. Doch genau wie nach dem Ende der Kulturrevolution trug dies nicht zur Beruhigung der Lage bei, sondern führte jeweils zu einer deutlichen Zunahme der antikommunistischen Bewegungen und Aufstände. Selbst viele der ehemaligen Leibeigenen, die in revolutionären Zeiten noch zu den Roten Garden gehalten hatten, schlossen sich den tibetischen Widerstandskämpfern der ersten Stunde an. Die Mechanismen der subtilen, im Grunde auf wirtschaftlicher Bestechung basierenden Unterdrückung, die anderswo so schön funktionieren, scheinen im Fall Tibets zu versagen; trotz schwerster Militärpräsenz muss auch heute noch Tag für Tag mit Insubordination gerechnet werden. Denen im Westen, die ob dem Glanz der wirtschaftlichen Perspektiven Chinas die ethischen Grundsätze der freien Welt noch nicht ganz vergessen haben, sollte dies Ansporn zu weiterem Einsatz zugunsten der Tibeter sein.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 6. Juni 2001, Nr.128, Seite 9