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   Artikel der NZZ vom 3.
  März 2003
   
    
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        Wehe den Besiegten      
        von Arnold Hottinger 
         
        Die islamischen Religionszweige im Irak 
         
        Zwar bilden im Irak die Anhänger der schiitischen Glaubensrichtung eine
        knappe Mehrheit; die Macht ist jedoch fest in der Hand einer
        sunnitischen Elite. Eine traumatische Unterdrückungsgeschichte auf der
        einen, radikal-islamistische Unterströmungen auf der andern Seite könnten einen "neuen" Irak vor gravierende Probleme stellen. 
         
        Die dreißigjährige politische Herrschaft der Baath-Partei unter Saddam
        Hussein im Irak war dermaßen monolithisch, dass nicht nur die Politik
        und Wirtschaft des Landes, sondern auch seine Religion und Kultur sich
        ihr beugen mussten. Die irakischen Schiiten, eine knappe Mehrheit der
        Bevölkerung, bekamen wiederholt die gewalttätige Hand des Machthabers
        zu spüren. Die arabophonen irakischen Sunniten kamen etwas leichter
        davon. Sie bilden die Basis, auf der Saddam seine Herrschaft gründet.
        Die Kurden erlitten schwere Verfolgungen und groß angelegte
        Vernichtungsaktionen, jedoch auf Grund ihrer Ethnie und nicht ihrer
        Religionszugehörigkeit. 
         
        In den Zeiten der blutigen Wirren zwischen Prokommunisten und arabischen
        Nationalisten, die unter Abdul Karim Kassem nach dem Umsturz von 1958
        begannen und erst 20 Jahre später mit der Austilgung der Kommunisten
        durch die Baathisten Saddams endeten, hatten viele der irakischen
        Schiiten dem Kommunismus zugeneigt; besonders jene, die zu
        Hunderttausenden in die Großstädte und ihre Elendsquartiere gewandert
        waren. Der Hauptgrund dafür war, dass ihre Gegner und Rivalen, das
        sunnitische Stadtproletariat, dem arabischen Nationalismus und dem
        Baathismus anhingen. Als Schiiten konnten sie gar nicht anders, als die
        Gegenposition zu beziehen. 
         
        Ausrottung einer Elite 
         
        Es gab damals hohe Geistliche, die sich nicht nur um die Religion,
        sondern auch um die soziale Lage ihrer schiitischen Gemeinde sorgten.
        Prominent unter ihnen war Baker as-Sadr, der in Najaf und Kerbela
        wirkte, als sich der exilierte Khomeiny auch in Najaf aufhielt. Baker
        as-Sadr zog erstmals eine schiitische Partei und Solidaritätsgruppe auf, die dazu dienen sollte, die irakischen Schiiten dem Einfluss der
        Kommunisten zu entziehen. Doch "Da'wa" - so der Name der
        Partei - stieß mit dem totalitären Machtwillen Saddam Husseins
        zusammen, der damals als zweiter Mann des Regimes die Geheimdienste und
        die Parteimilizen der Baathisten kommandierte. Er schlug die
        Schiitenorganisation nieder und trieb sie in den Untergrund. Von dort
        aus versuchten ihre Anhänger noch jahrelang, durch Bombenanschläge zu
        wirken, was jedoch nur zur Verschärfung der Verfolgungen beitrug. 
         
        Saddam ging dann dazu über, die wichtigsten der sozial und politisch
        aktiven Oberhäupter der Schiiten physisch zu eliminieren. Der
        hochverehrte Baker as-Sadr und seine Schwester Huda, die sich der
        Frauenfragen angenommen hatte, wurden beide zu Tode gefoltert. Als
        Saddam sich 1979 zum Präsidenten aufschwang, führte er eine große Parteireinigung durch, in der die schiitischen Kader der Staatspartei
        als Verräter bezeichnet und erschossen wurden. Als im Jahre darauf der
        Krieg gegen Iran bevorstand, wurden die schiitischen Eliten, die über irgendwelche iranischen Verbindungen
        verfügten, zu Zehntausenden auf
        Lastwagen geladen und über die iranische Grenze transportiert. 
         
        Einer der angesehensten Geistlichen der irakischen Schiiten, Mohsen
        al-Hakim, starb vor dem Höhepunkt der Verfolgung. Er hinterließ eine Großfamilie
        von mehreren Dutzend Personen, die alle umgebracht wurden,
        manche von offiziellen Schergen, andere durch inszenierte Unfälle und
        Mordanschläge. Nur einer von ihnen entkam nach Iran, Muhammed Baker
        al-Hakim. Er arbeitete dort mit der aufsteigenden - und bald darauf mit
        dem Irak im Krieg stehenden - Islamischen Revolution zusammen, und diese
        erlaubte ihm, ein "Hohes Komitee für die Islamische Revolution im
        Irak" zu bilden und eine Truppe auszuheben, die "al-Badr"
        genannt wurde. Sie kämpfte im Krieg auf der iranischen Seite, jedoch
        nicht sehr prominent, weil die irakischen Schiiten sich zwar als
        Schiiten fühlten, aber nicht als Perser. 
         
        Doch "al-Badr", bewaffnet, ausgebildet und begleitet von
        iranischen Revolutionswächtern (Pasdaran), bildete den Kern der
        Truppen, die nach dem amerikanischen Sieg in Kuwait vom Januar 1991 in
        den Südirak eindrangen und dort eine kurzlebige Erhebung gegen die
        verbliebenen Soldaten und Funktionäre Saddams auslösten. Sie zogen
        damals mit allen Symbolen der iranischen Revolution zu Felde: mit
        Khomeiny-Porträts, den Slogans der iranischen Revolution, ihren Waffen,
        Uniformen und Kopfbinden, ihrer Propaganda und religionspolitischen
        Rhetorik. Später wurde diese Affiliation von den irakischen Schiiten
        als ein Fehler bewertet; sie war einer der Faktoren, die zur verhängnisvollen Distanznahme der Amerikaner
        führten. Die Saudi legten
        damals ihren zu jener Zeit engen amerikanischen Verbündeten nahe, dass
        sie auf keinen Fall eine "Revolution iranischen Stils" an
        ihren Grenzen sehen wollten. 
         
        Die Niederschlagung des von den Amerikanern im Stich gelassenen
        schiitischen Aufstandes führte zur größten Verfolgung der irakischen
        Schiiten, der mindestens 30000 Personen zum Opfer fielen. 8000
        Geistliche wurden aus Najaf vertrieben. Nach den Schiiten ging Saddam
        zunächst gegen die Kurden vor; die Schiiten waren weiteren Repressalien
        ausgesetzt, als der Machthaber nach 1993 beschloss, die
        schilfbewachsenen Sümpfe des irakischen Südens trockenzulegen, weil
        sie seit Jahrhunderten als Zufluchtsort für Menschen dienten, die vor
        dem Staat hatten fliehen müssen. Er ließ durch die Armee einen
        Ableitungskanal graben, der die Sümpfe entwässerte und dem irakischen
        Staat den Zugriff auf ihre zwischen 200000 und 400000 schiitischen
        Bewohner erlaubte. Sie wurden teils umgebracht, teils in nördliche Dörfer
        zwangsumgesiedelt. 
         
        Erst nachdem dies geschehen war, erklärten die Amerikaner und ihre
        damaligen Alliierten ein Überflugverbot für irakische Kampfflugzeuge
        "zum Schutz der Schiiten". Doch anders als das vorausgegangene
        Flugverbot über der kurdischen Gebirgszone hatte das südliche keine
        Schutzwirkung. Die dortige schiitische Bevölkerung befand sich im
        Flachland und war längst entwaffnet. Auch wenn Luftangriffe untersagt
        waren, stand sie daher den Attacken der irakischen Artillerie,
        Infanterie und der Parteimilizen schutzlos gegenüber. Die heutige
        religiöse Lage im Irak ist weitgehend durch diese Vorgeschichte
        bestimmt. Die Schiiten haben inzwischen zwar ein paar neue, regimetreue
        geistliche Führer erhalten, doch sie dürften genau wissen, was sie von
        ihnen zu halten haben: Sie sind nicht mehr als Quislinge. Sie wissen
        jedoch nicht, und dürften innerlich darüber gespalten sein, was ihnen
        Baker al-Hakim und seine Exilarmee bringen könnten: Befreiung? Einen
        Fehlschlag wie 1991 mit für sie verheerenden Konsequenzen? Verbunden
        mit einem neuen "Verrat" der Amerikaner? Gefolgt von einem
        Eingreifen der sunnitischen Saudi oder der bisher laizistischen, aber
        auch sunnitischen Türken? 
         
        In Frage gestellte Macht 
         
        Dabei ist eines klar: Das iranische Modell der Islamischen Revolution lässt sich nicht auf den Irak
        übertragen. Der tief gespaltene Staat
        mit einer knappen schiitischen Mehrheit, die seit dessen Bestehen das
        Land nie regierte, kann unmöglich von einem schiitischen
        "herrschenden Gottesgelehrten" angeführt werden. Die heute in
        Iran dominierenden konservativen Revolutionäre (Khamenei und seine
        Parteigänger) haben sogar alle Ursache, sich vor einem Aufleben des
        irakischen Schiismus zu fürchten. Denn die Macht des "herrschenden
        Gottesgelehrten" müsste im Irak notgedrungen anders definiert
        werden als in Teheran. Und die diesbezügliche Grundfrage - ob die Macht
        letztlich beim Klerus liegt oder auf demokratischen Verhältnissen gründet
        - ist im Rahmen des heutigen Machtkampfes unter den iranischen
        Schiiten höchst explosiv. 
         
        Im iranischen Qum sitzen heute gegen 3000 aus dem Irak geflohene
        arabophone schiitische Geistliche. Sie warten darauf, in ihre Heimat zurückzukehren. Da dort die
        glaubwürdigen schiitischen Gottesgelehrten
        Saddams Vernichtungspolitik zum Opfer gefallen sind, dürften die
        Exilierten nach ihrer Heimkehr bedeutenden Einfluss ausüben. Sie werden
        schwerlich als Propagandisten fuer die iranische Lösung der Staatsführung
        wirken. In Iran haben sie die Nachteile der
        "Herrschaft durch den Gottesgelehrten" kennen gelernt. Wie sie
        sich ausrichten, dürfte hingegen weitgehend vom Takt und vom Feingefühl
        der Besetzungsmacht abhängen. Wird diese sich so verhalten,
        dass sie die neue Generation der aus Iran zurückgekehrten Geistlichen
        gegen sich aufbringt? Oder wird es ihr wider Erwarten gelingen, sie zur
        Mitarbeit zu ermuntern? 
         
        Was die Sunniten angeht, kann man als sicher annehmen, dass es bereits
        heute Geistliche gibt, die im Verborgenen davon träumen, einen
        "islamischen Staat" zu gründen, unter ihrer Führung natürlich. Eine Mehrheit
        dürfte dies mit friedlichen Mitteln der
        Propaganda und Überzeugung anstreben; eine Minderheit, die je nach den
        Umständen zu- oder abnehmen kann, dürfte auch gewaltsame Mittel zu
        diesem "heiligen Zweck" befürworten. Der Islamismus ist heute
        die führende Ideologie im arabischen Raum. Doch solange Saddam regiert,
        werden weder die gemässigten noch die radikalen sunnitischen Islamisten
        ihre Köpfe heben - er würde sie ohne Skrupel abhacken. Öffentlich
        agierende sunnitische Geistliche im Machtbereich des Diktators müssen
        zurzeit Konformisten und Kollaborateure sein. Die anderen jedoch warten
        auf ihre Stunde. Sie dürfte kommen, wenn Saddam nicht mehr da ist. Die
        dann zu erwartende Praesenz einer "christlichen"
        Besetzungsmacht dürfte die Chancen einer neuen Generation von
        Islamisten nur fördern. Ihre Predigt: "Der Islam bringt die Lösung!", wird umso
        stärker wirken, je dringender eine Lösung
        notwendig sein wird. Also werden auch im sunnitischen Bereich die
        Besatzungsmacht und ihre Politik die entscheidende Weichenstellung
        festlegen. 
         
        Was die Kurden angeht, so ist ihr Islam, besonders auf dem Lande und
        unter den Stämmen, vielmehr traditioneller Volksislam als der
        Reformislam (Islah), der heute die Hauptausrichtung für die städtischen
        Muslime angibt und auch den Grund bildet, in dem die
        islamistische Ideologie wurzelt. Dieser Volksislam, den die Vertreter
        des Reformislams (und noch mehr die Islamisten !) als überholt und
        unorthodox ansehen, kennt seine eigenen Wege, auf denen er sich von der
        Staatsmacht fernhält. Er wird auch mit einem demokratischen Staat,
        falls er zustande kommt, koexistieren können. 
         
        Neue Zürcher Zeitung, 3. März  2003,
        Feuilleton; Seite 25 | 
           
          
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