Die Araber angesichts der Katastrophe
    Nach der Errichtung des Staates Israel im Jahre 1948 und der
    Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 stehen die Araber mit der
    angloamerikanischen Invasion des Iraks vor der dritten nationalen
    Katastrophe in wenig mehr als einem halben Jahrhundert. Der Krieg im Irak
    ist das Resultat der masslosen Selbstüberschätzung des irakischen
    Machthabers und der Unfähigkeit der Welt, darauf die angemessene Antwort zu
    finden. Für dieses Scheitern sind auch die Führer der arabischen Staaten
    verantwortlich, die sich unfähig gezeigt haben, einen wirksamen Beitrag an
    die monatelangen internationalen Bemühungen um eine friedliche Lösung der
    Krise um die vermuteten irakischen Massenvernichtungswaffen zu leisten.
    Es waren nicht die Araber, sondern Frankreich, das in einer
    geschickten diplomatischen Kampagne den Widerstand gegen die amerikanischen
    Angriffspläne organisierte und diesen damit die Zustimmung der Uno
    verwehrte. Während dieser Zeit verstrickten sich die meisten arabischen
    Regierungen immer tiefer in Widersprüche, die ihre ohnehin geringe Glaubwürdigkeit
    weiter aushöhlten. Denn auf der einen Seite kritisierten die arabischen
    Sprecher eine amerikanische Intervention im Irak als Verstoss gegen das Völkerrecht
    und als politischen Fehler, auf der anderen Seite stellten viele arabische
    Regime ihr Territorium für den amerikanischen Aufmarsch gegen den Irak zur
    Verfügung. Auf ihre Öffentlichkeit machten die arabischen Führer den
    Eindruck, sie hätten angesichts des amerikanischen Willens, den Mittleren
    Osten zu kontrollieren und nach eigenen Vorstellungen umzugestalten,
    resigniert.
    Seit zehn Tagen verfolgen nun die Araber auf ihren
    Bildschirmen mit wachsender Empörung die alliierte Invasion des Iraks. Die
    panarabischen Satelliten-Fernsehsender setzen mit ihren Berichten aus dem
    Kriegsschauplatz ihr Publikum einem Wechselbad der Gefühle aus: Trauer und
    Wut vor den Bildern von Opfern und Zerstörungen in den Städten,
    Schadenfreude und Hoffnung vor den Aufnahmen abgeschossener amerikanischer
    Helikopter oder gefangener alliierter Soldaten. Die arabische Presse, selbst
    in den stillschweigend mit den USA verbündeten Ländern, kritisiert grösstenteils
    und lauthals die Politik der USA und stellt den Überlebenskampf von Saddam
    Husseins Regime als heroischen Widerstand des irakischen Brudervolks gegen
    eine fremde Invasionsarmee dar.
    Den medialen Kampf um die Sympathie oder auch nur das Verständnis
    der Araber haben die Amerikaner bereits verloren. In den letzten zehn Jahren
    ist in der arabischen Welt eine moderne und dynamische Medienindustrie
    entstanden, die ein riesiges Publikum unterhält und informiert. Die
    Berichte, welche die «internationalen» arabischen Zeitungen und Fernsehkanäle
    verbreiten, werden von professionellen Journalisten gemacht und richten sich
    nach den Bedürfnissen des Publikums aus. Damit entfaltet sich eine
    arabische öffentliche Meinung, die von westlichen Informationskanälen
    unabhängig ist und von den arabischen Regierungen nicht mehr kontrolliert
    wird. Noch hat sich diese öffentliche Meinung kaum als politische Kraft
    manifestiert, welche fähig wäre, auf die Verhältnisse einen
    entscheidenden Einfluss zu nehmen. Doch das Verhalten der arabischen
    Regierungen zeigt, dass sie heute gezwungen sind, mit diesem Faktor zu
    rechnen.
    Heute macht im Mittleren Osten der Vergleich zwischen der sich
    anbahnenden Besetzung des Iraks durch die USA und der Errichtung des Staates
    Israel in Palästina im Jahre 1948 die Runde. Der Vergleich zeigt nicht nur,
    in welchem Ausmass der Irak- Krieg von den Arabern als Katastrophe
    verstanden wird. Indem er eine klare Parallele zwischen den USA und dem
    Erzfeind Israel zieht, zeigt er auch, wie zerrüttet das Verhältnis
    zwischen Amerikanern und Arabern ist. Diese Zerrüttung wurzelt in der enttäuschten
    Hoffnung auf die Teilnahme am Wohlstand und an den Freiheiten des Westens
    und ist mit der amerikanischen Unterstützung für die undemokratischen und
    korrupten Regime der Region und der amerikanischen Parteilichkeit zugunsten
    Israels gewachsen.
    Die terroristischen Anschläge auf New York und Washington im
    Jahr 2001 waren der Versuch einer extremistischen Gruppe von Arabern, die
    amerikanisch-arabische Zerrüttung in einen «Zusammenstoss der Kulturen»
    zu treiben. Die Invasion des Iraks, die auch als Reaktion auf den 11. September
    zu verstehen ist, ist ein weiterer Schritt in diese fatale Richtung. Die
    breit diskutierte Absicht der Administration Bush zu einer umfassenden
    Neuordnung der ganzen Region zwischen Mittelmeer und Persischem Golf bekräftigt
    in der arabischen Welt die Überzeugung, Amerika wolle die absolute
    Kontrolle über das Erdöl am Golf erringen und den Arabern seine
    politischen Vorstellungen, nicht zuletzt einen ungerechten Frieden mit
    Israel aufzwingen.
    Die fast täglichen Demonstrationen in vielen arabischen Städten
    werden von den umfangreichen und unzimperlichen Sicherheitskräften der
    verschiedenen Machthaber genau überwacht und in Schach gehalten. In der
    gegenwärtigen Stimmung kann aber ein aufwühlendes Ereignis im Irak, oder
    in Palästina, der Auslöser für Unruhen sein, die nicht mehr oder nur
    unter dem massiven Einsatz von Gewalt unter Kontrolle gebracht werden könnten.
    Es ist kaum absehbar, wie sich solche Situationen entwickeln können, fehlen
    doch in den meisten Ländern starke politische Organisationen oder Führer,
    die eine spontane Volksbewegung auf ein Ziel auszurichten vermöchten.
    Als Alternative zur Resignation und zur Ratlosigkeit, welche
    die arabische Politik heute prägen, bieten sich der Islamismus und der
    Terrorismus an. Es ist anzunehmen, dass extremistische Organisationen in
    diesen Tagen und Wochen neue Rekruten und Sympathisanten gewinnen, welche
    die Fähigkeit dieser Gruppen zu Gewaltaktionen beträchtlich stärken könnten.
    Die heutige Lage bietet den Strategen des Terrorismus eine ideale
    Gelegenheit, mit spektakulären Anschlägen zu versuchen, die Entfremdung
    zwischen dem Westen und dem Islam zu vertiefen und die Welt weiter in den
    Konflikt zwischen den Kulturen hineinzuziehen. Wie die Erfahrung zeigt, ist
    die Strategie des Terrorismus jedoch ein Irrweg, der nur zu weiteren
    Niederlagen und damit noch tiefer in die politische Bedeutungslosigkeit führt.
    Eine Stärkung der arabischen Position kann nur erreicht
    werden, wenn die arabischen Machthaber ihre Glaubwürdigkeit nach innen wie
    nach aussen wieder herstellen können. Die Glaubwürdigkeit gegenüber ihren
    eigenen Völkern hängt von der Bereitschaft und der Fähigkeit der
    verschiedenen Regime ab, sich dem politischen Dialog und der Beteiligung der
    Bevölkerung an der Macht zu öffnen. Die innere Legitimation der arabischen
    Führer und deren Verpflichtung auf ein gemeinsames arabisches Vorgehen sind
    die Grundlagen, auf der die arabische Welt ihr Selbstvertrauen und ihre
    Politik neu aufrichten muss.
    Von diesen Grundlagen kann und muss die Anstrengung der
    arabischen Regierungen ausgehen, ihre fatale Abhängigkeit von den USA
    abzustreifen und damit den Spielraum zur Verteidigung ihrer nationalen
    Interessen zu vergrössern. Die französisch-deutsch-russische Achse, die
    sich in der Auseinandersetzung um das Vorgehen gegen Saddam Hussein als
    Gegengewicht zur Allianz «der Willigen» gebildet hat, könnte, so sie denn
    Bestand hat, einen weiteren, äusseren Ansatz zur Stärkung ihrer Position
    bieten. Doch im Moment herrscht im Irak Krieg, in der arabischen Welt Wut
    und Ratlosigkeit, und Anläufe zu einem Neubeginn in der arabischen Politik
    sind kaum erkennbar.
    Jürg Bischoff