Arabischer Nationalismus
Bei der Gründung des irakischen Königreichs bildeten die
Schiiten eine Mehrheit im Irak. Klientelpolitik formte in den ersten zwei
Jahrzehnten des Königreiches aus der scherifischen Elite, den städtischen
Notabeln und den schiitischen Grossgrundbesitzern eine neue Klasse, die sich
von der Bevölkerung abhob. König Faisal war sich der Zentrifugalkräfte
durchaus bewusst, die seine Herrschaft bedrohten. Eine
arabisch-nationalistische Staatsdoktrin sollte seine Herrschaft im Irak auf
sicheren Boden stellen. Der arabische Nationalismus war weitgehend ein Produkt
des Ersten Weltkriegs, der die Entfremdung der Araber von der türkisch-osmanischen
Herrschaft vertieft hatte. Im Irak sollte der arabische Nationalismus vor
allem über das neue staatliche Bildungssystem und eine Wehrpflichtarmee
verbreitet werden. Kurden und Schiiten lehnten jedoch einen sunnitisch
dominierten Panarabismus mit säkularen Tendenzen ab. Die Pläne einer
nationalistischen Integration erhielten einen schweren Schlag, als 1933 König
Faisal unerwartet starb und damit die Symbolfigur irakischer Staatlichkeit
verschwand. Sein Sohn Ghazi I. war jung und unerfahren, ein Lebemann, der
sich wenig um die Staatsgeschäfte kümmerte. Als er 1939 bei einem Autounfall
umkam, folgte ihm sein minderjähriger Sohn Faisal II. auf den Thron.
nden waren, eine breite Basis, wovon besonders die kommunistische Partei
profitierte. Die Baath-Partei, in den vierziger Jahren in Syrien gegründet,
etablierte Anfang der fünfziger Jahre eine Zweigstelle im Irak. Ideologisch
entwickelte sie eine Synthese aus arabischem Nationalismus und gemässigtem
Sozialismus, die zwar säkular, aber nicht antireligiös war. Eines ihrer
Hauptziele war die gerechtere Verteilung des Landbesitzes.
Nach der ägyptischen Revolution von 1952 wurde Nasser auch im
Irak zum Idol, zumal das Offizierskorps nach der Niederlage im
arabisch-israelischen Krieg von 1948 das Vertrauen in die militärische und
politische Führung verloren hatte. Am 14. Juli 1958 holte die Armee
unter der Führung von General Abd-al-Karim Qassem und Abd-al-Salam Arif zum
entscheidenden Schlag gegen die Monarchie aus. Der mittlerweile 23 Jahre alte
König Faisal II wurde mitsamt seiner Familie umgebracht, ebenso Nuri
as-Said, Symbolfigur der Bindung des Iraks an Grossbritannien. Im darauf
folgenden Machtkampf behielt Qassem die Oberhand, indem er die kommunistische
Partei für sich gewann und Arif ausbootete. Die Zusammenarbeit mit den
Kommunisten war jedoch von kurzer Dauer, und binnen kurzem errichtete Qassem
ein Militärregime.
Der Einfluss der kommunistischen Partei schwand auch deswegen,
weil sich die schiitische Geistlichkeit gegen säkulare Strömungen stellte.
Die Baath-Partei gewann hingegen an Einfluss in der Armee und unterstützte
Arif, der 1963 Qassem stürzte und umbringen liess. Als jedoch Verhandlungen
mit Syrien und Ägypten über eine Vereinigung der drei Staaten zu einer
panarabischen Republik scheiterten und dies in Führungskämpfe innerhalb der
Baath-Partei mündete, drängte Arif in einem erneuten Staatsstreich wenige
Monate später die Partei aus der Regierung und regierte zunehmend wie ein
Diktator. Arif kam drei Jahre später bei einem Helikopterabsturz um.
Die dreissiger Jahre waren gekennzeichnet von Klientelpolitik,
wechselnden Allianzen und gewaltsam ausgetragenen politischen Konflikten. Die
Armee wurde zum tragenden Symbol des Nationalismus und Ort vermehrter
arabisch-nationalistischer Agitation. Eine Gruppe von jüngeren
Intellektuellen bildete sich in den Städten und trug die Konflikte um
Ideologien und Staatsformen in die Öffentlichkeit. Widerstreitende Ansichten
darüber, ob der Irak eher das Land der Iraker oder doch Kern einer arabischen
Nation sein sollte, wurden in die Armee getragen. Von 1936 bis 1941 griff das
Militär in mehreren Putschen in die Regierungsbildung ein, und die
Kabinettsmitglieder wurden zu Marionetten der Offiziere.
Ein Teil des politischen Establishments förderte weiterhin eine
loyale Haltung gegenüber Grossbritannien, dessen Einfluss auf die irakische
Politik entscheidend blieb. Eine andere Fraktion optierte für eine Abwendung
von Grossbritannien und stärkere nationale Unabhängigkeit. Diese Fraktion
wurde unterstützt von jüngeren Intellektuellen und Offizieren der Armee. Im
Zweiten Weltkrieg führte schliesslich die Entfremdung der militärischen Führung
von Grossbritannien und seinen Anhängern dazu, dass Anfang April 1941 das
Militär die probritische Fraktion mitsamt dem Regenten zur Flucht aus dem
Land zwang. Über geheime Kanäle knüpfte die neue Regierung unter
Premierminister Rashid Ali al-Kailani Kontakte zum «Dritten Reich».
Churchill entsandte daraufhin Truppen, die binnen eines Monats im Mai 1941 die
ungeliebte Regierung verjagten. Auf irakischer Seite kamen deutsche Flieger
zum Einsatz. Rashid Ali und der im Bagdader Exil lebende Mufti von Jerusalem,
Amin al-Husseini, flohen nach Berlin.
Zweite britische Besetzung
Der Niederlage von 1941 folgte die zweite britische Besetzung
des Iraks, die bis 1945 dauerte. Aber auch nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges blieb der Irak ein enger Verbündeter Grossbritanniens. Die alte
Elite wurde wieder eingesetzt; ihr Hauptvertreter, Nuri al-Said, wurde zur
bestimmenden Figur der Nachkriegszeit. Die Zeit bis zur Revolution von 1958
war geprägt von wachsenden sozialen und politischen Konflikten. Die junge
Generation, zumal die der Schiiten, erlebte, dass sie vom politischen Prozess
abgetrennt war. Die Vetternwirtschaft dauerte fort, und steigende Landflucht
verschaffte den politischen Strömungen, die in den dreissiger Jahren entsta ums Leben,
und sein Bruder Abd-al-Rahman rückte nach.
Der Sechstagekrieg von 1967 bedeutete für die arabischen Militärregime
einen tiefgehenden Glaubwürdigkeitsverlust. Abd-al-Rahman Arif hatte es zudem
versäumt, das Netzwerk von persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten in
der Armee zu pflegen, auf dem die Macht seines Bruders geruht hatte. Im
folgenden Jahr führte dies zu einem erneuten Militärputsch, nachdem sich die
Baath-Partei in den vorangehenden Jahren eine Basis in der Armee geschaffen
hatte. Der starke Mann der Partei, General Ahmad Hasan al-Bakr, wurde Präsident.
Seine rechte Hand war Saddam Hussein. Er hatte seit Mitte des Jahrzehnts die
Partei neu organisiert und die Kontrolle über die Strasse gewonnen. Saddam
Hussein musste besonderes Geschick beim Ausbau seiner Machtposition an den Tag
legen, da er von einfacher Herkunft war und keinen militärischen Hintergrund
besass. Durch die Kontrolle über die Geheimdienste und die Parteimiliz trug
er mit brachialer Gewalt entscheidend zur Konsolidierung der Macht der
Baath-Partei bei. Seine Seilschaften beruhten weitgehend auf der gemeinsamen
sunnitischen Herkunft aus der Gegend um die Stadt Tikrit, aus der sowohl Bakr
als auch Saddam stammten.
Machterhalt
In der Folgezeit ging es lediglich um den Erhalt der Macht eines
kleinen elitären Zirkels. Ideologien wie Panarabismus oder Sozialismus
dienten als Feigenblätter für Günstlings- und Vetternwirtschaft. 1979
stiess Saddam seinen Mentor al-Bakr vom Präsidentenstuhl und sicherte sich so
auch die nominelle Macht im Staat. Die Stabilisierung der Baath-Herrschaft in
den siebziger Jahren ging mit einem massiven wirtschaftlichen Aufschwung
einher. Es hatte schon unter der Monarchie und in den sechziger Jahren Ansätze
zu Industrialisierung und Sozialreform gegeben, aber erst der erhebliche
Anstieg der Einkünfte aus der Ölförderung in den siebziger Jahren machte es
möglich, den öffentlichen Sektor weit auszudehnen und eine breite, verhältnismässig
gut verdienende Mittelschicht zu schaffen. Saddam Husseins Günstlingswirtschaft
erhielt so eine neue Basis. Das staatliche Gesundheitssystem, Schul- und
Universitätsbildung funktionierten auf hohem Niveau. Dennoch blieben die
inneren Widersprüche bestehen.
Das Verhältnis der Zentralregierung zu den Kurden war seit der
Staatsgründung geprägt von Konflikten. Kurdische Aufstände brachen in
regelmässigen Abständen aus mit der Forderung nach mehr Autonomie. Kurden
kontrollierten die Bergregionen des Nordiraks ebenso wie die Schmuggel- und
Fluchtrouten in die Nachbarstaaten. Die Spaltung der Kurden in zwei
rivalisierende Parteien seit den siebziger Jahren, deren wechselnde Allianzen
mit der türkischen, der iranischen oder auch der eigenen Regierung hielten
den Konflikt am Schwelen. Gipfel der Repressionen gegen die kurdische Zivilbevölkerung
waren die Gasangriffe während des Iran-Irak-Krieges.
Ebenso bildeten die schiitischen Geistlichen der Pilgerstädte
im Süden immer einen Herd der Opposition gegen das Regime. Sie spielten eine
politische Rolle als Agitatoren, die sich gegen die säkular-sozialistischen
Tendenzen der Baath richteten. Saddam Hussein unterdrückte diese Opposition
durch eine rücksichtslose Verfolgungspolitik, die mit der Niederschlagung des
schiitischen Aufstands nach dem Golfkrieg 1991 und den Repressalien der
Folgejahre ihre Höhepunkte erreichte.
Über ein Jahrzehnt zuvor hatte Saddam Hussein den Angriff auf
Iran befohlen, doch die Erwartung eines schnellen Sieges erwies sich bald als
Fehleinschätzung, die bis heute Folgen zeigt. Nach dem wirtschaftlichen
Zusammenbruch im Zuge der Kriege blieb Saddam vor allem das informelle
Beziehungsnetz als Machtbasis. Heute ist deshalb eine innere Umstrukturierung
des Iraks unübersehbar, die wieder Stammesloyalität als Garantin der Macht
zum Zuge kommen lässt. Damit kehrt der Irak in gewisser Weise zu seinen Anfängen
zurück, als König Faisal seine Autorität in einem Territorium etablieren
musste, in dem Macht und Kontrolle vor allem in der Hand von Stammesfürsten
lagen.
Peter Wien
Der Autor forscht am Zentrum Moderner Orient in Berlin.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Feuilleton, 15. Februar 2003, Nr.38, Seite 57