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  Artikel der NZZ vom 15. Februar 2003

Dreigeteiltes Zweistromland

Die Geschichte des Iraks

Saddam Hussein - wie ein Menetekel lastet dieser Name auf dem Irak-Bild der westlichen Medien, und nur wenige wissen mehr über den Staat im Zweistromland als das, was sich mit diesem Mann verbindet. Schon immer war es schwierig, im Irak unter die Oberfläche der komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse zu blicken. Einen Anhaltspunkt gibt die heutige - durch Flugverbotszonen markierte - Dreiteilung des Landes. Sie spiegelt den historisch dominierenden Konflikt zwischen den kurdischen, sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsgruppen wider.

Als der Irak 1921 als Königreich ins Leben gerufen wurde, war er ein künstliches Gebilde des Imperialismus. 1917 hatten britische Truppen das Land erobert, das sich aus den osmanischen Provinzen von Basra, Bagdad und Mosul zusammensetzte. Um ihre Militärausgaben nach einem blutigen Aufstand 1920 zu reduzieren, beschlossen die Briten, das Land in die Selbstverwaltung überzuführen. Der Völkerbund übergab Grossbritannien das Mandat, den Irak auf dem Weg zu Demokratie und Unabhängigkeit zu begleiten. 1921 fiel im Zuge der Kairoer Konferenz die Entscheidung, Faisal, den Sohn des Scherifen von Mekka, zum irakischen König von Englands Gnaden zu krönen. Im Ersten Weltkrieg war Faisal Anführer der von den Briten unterstützten arabischen Revolte gegen die Türken gewesen. Der neue König brachte eine bereits formierte politische Elite in den Irak, die irakischstämmigen sogenannten Scherifenoffiziere. Sie waren an osmanischen Offiziersschulen in Istanbul ausgebildet worden und hatten sich während des Krieges der arabischen Revolte angeschlossen.

Der Irak erhielt eine parlamentarische Verfassung, 1930 wurde ein Unabhängigkeitsvertrag besiegelt, der den Irak 1932 mit der Aufnahme in den Völkerbund in die Eigenstaatlichkeit entliess. In Wirklichkeit war er jedoch ein sehr unstabiles Gebilde. Über Jahrhunderte war er Streitobjekt zwischen der sunnitisch-osmanischen Macht des Sultans in Istanbul und dem schiitischen Iran gewesen. Erst nach dem 17. Jahrhundert wurde das Zweistromland dauerhaft Teil des Osmanischen Reiches. Die urbanen Verwaltungszentren wurden sunnitisch-osmanisch dominiert, während weite Teile des Landes von Stammesherrschaften geprägt waren. Im bergigen Norden übten Kurden die faktische Macht zwischen dem heutigen Irak, Iran und Anatolien aus. Im Süden bildeten Schiiten die Mehrheit der Landbevölkerung, nachdem sich seit dem späten 18. Jahrhundert zahlreiche Stämme um die schiitischen heiligen Städte niedergelassen hatten und zur Schia übergetreten waren.

Arabischer Nationalismus

Bei der Gründung des irakischen Königreichs bildeten die Schiiten eine Mehrheit im Irak. Klientelpolitik formte in den ersten zwei Jahrzehnten des Königreiches aus der scherifischen Elite, den städtischen Notabeln und den schiitischen Grossgrundbesitzern eine neue Klasse, die sich von der Bevölkerung abhob. König Faisal war sich der Zentrifugalkräfte durchaus bewusst, die seine Herrschaft bedrohten. Eine arabisch-nationalistische Staatsdoktrin sollte seine Herrschaft im Irak auf sicheren Boden stellen. Der arabische Nationalismus war weitgehend ein Produkt des Ersten Weltkriegs, der die Entfremdung der Araber von der türkisch-osmanischen Herrschaft vertieft hatte. Im Irak sollte der arabische Nationalismus vor allem über das neue staatliche Bildungssystem und eine Wehrpflichtarmee verbreitet werden. Kurden und Schiiten lehnten jedoch einen sunnitisch dominierten Panarabismus mit säkularen Tendenzen ab. Die Pläne einer nationalistischen Integration erhielten einen schweren Schlag, als 1933 König Faisal unerwartet starb und damit die Symbolfigur irakischer Staatlichkeit verschwand. Sein Sohn Ghazi I. war jung und unerfahren, ein Lebemann, der sich wenig um die Staatsgeschäfte kümmerte. Als er 1939 bei einem Autounfall umkam, folgte ihm sein minderjähriger Sohn Faisal II. auf den Thron.

nden waren, eine breite Basis, wovon besonders die kommunistische Partei profitierte. Die Baath-Partei, in den vierziger Jahren in Syrien gegründet, etablierte Anfang der fünfziger Jahre eine Zweigstelle im Irak. Ideologisch entwickelte sie eine Synthese aus arabischem Nationalismus und gemässigtem Sozialismus, die zwar säkular, aber nicht antireligiös war. Eines ihrer Hauptziele war die gerechtere Verteilung des Landbesitzes.

Nach der ägyptischen Revolution von 1952 wurde Nasser auch im Irak zum Idol, zumal das Offizierskorps nach der Niederlage im arabisch-israelischen Krieg von 1948 das Vertrauen in die militärische und politische Führung verloren hatte. Am 14. Juli 1958 holte die Armee unter der Führung von General Abd-al-Karim Qassem und Abd-al-Salam Arif zum entscheidenden Schlag gegen die Monarchie aus. Der mittlerweile 23 Jahre alte König Faisal II wurde mitsamt seiner Familie umgebracht, ebenso Nuri as-Said, Symbolfigur der Bindung des Iraks an Grossbritannien. Im darauf folgenden Machtkampf behielt Qassem die Oberhand, indem er die kommunistische Partei für sich gewann und Arif ausbootete. Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten war jedoch von kurzer Dauer, und binnen kurzem errichtete Qassem ein Militärregime.

Der Einfluss der kommunistischen Partei schwand auch deswegen, weil sich die schiitische Geistlichkeit gegen säkulare Strömungen stellte. Die Baath-Partei gewann hingegen an Einfluss in der Armee und unterstützte Arif, der 1963 Qassem stürzte und umbringen liess. Als jedoch Verhandlungen mit Syrien und Ägypten über eine Vereinigung der drei Staaten zu einer panarabischen Republik scheiterten und dies in Führungskämpfe innerhalb der Baath-Partei mündete, drängte Arif in einem erneuten Staatsstreich wenige Monate später die Partei aus der Regierung und regierte zunehmend wie ein Diktator. Arif kam drei Jahre später bei einem Helikopterabsturz um.

Die dreissiger Jahre waren gekennzeichnet von Klientelpolitik, wechselnden Allianzen und gewaltsam ausgetragenen politischen Konflikten. Die Armee wurde zum tragenden Symbol des Nationalismus und Ort vermehrter arabisch-nationalistischer Agitation. Eine Gruppe von jüngeren Intellektuellen bildete sich in den Städten und trug die Konflikte um Ideologien und Staatsformen in die Öffentlichkeit. Widerstreitende Ansichten darüber, ob der Irak eher das Land der Iraker oder doch Kern einer arabischen Nation sein sollte, wurden in die Armee getragen. Von 1936 bis 1941 griff das Militär in mehreren Putschen in die Regierungsbildung ein, und die Kabinettsmitglieder wurden zu Marionetten der Offiziere.

Ein Teil des politischen Establishments förderte weiterhin eine loyale Haltung gegenüber Grossbritannien, dessen Einfluss auf die irakische Politik entscheidend blieb. Eine andere Fraktion optierte für eine Abwendung von Grossbritannien und stärkere nationale Unabhängigkeit. Diese Fraktion wurde unterstützt von jüngeren Intellektuellen und Offizieren der Armee. Im Zweiten Weltkrieg führte schliesslich die Entfremdung der militärischen Führung von Grossbritannien und seinen Anhängern dazu, dass Anfang April 1941 das Militär die probritische Fraktion mitsamt dem Regenten zur Flucht aus dem Land zwang. Über geheime Kanäle knüpfte die neue Regierung unter Premierminister Rashid Ali al-Kailani Kontakte zum «Dritten Reich». Churchill entsandte daraufhin Truppen, die binnen eines Monats im Mai 1941 die ungeliebte Regierung verjagten. Auf irakischer Seite kamen deutsche Flieger zum Einsatz. Rashid Ali und der im Bagdader Exil lebende Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, flohen nach Berlin.

Zweite britische Besetzung

Der Niederlage von 1941 folgte die zweite britische Besetzung des Iraks, die bis 1945 dauerte. Aber auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb der Irak ein enger Verbündeter Grossbritanniens. Die alte Elite wurde wieder eingesetzt; ihr Hauptvertreter, Nuri al-Said, wurde zur bestimmenden Figur der Nachkriegszeit. Die Zeit bis zur Revolution von 1958 war geprägt von wachsenden sozialen und politischen Konflikten. Die junge Generation, zumal die der Schiiten, erlebte, dass sie vom politischen Prozess abgetrennt war. Die Vetternwirtschaft dauerte fort, und steigende Landflucht verschaffte den politischen Strömungen, die in den dreissiger Jahren entsta ums Leben, und sein Bruder Abd-al-Rahman rückte nach.

Der Sechstagekrieg von 1967 bedeutete für die arabischen Militärregime einen tiefgehenden Glaubwürdigkeitsverlust. Abd-al-Rahman Arif hatte es zudem versäumt, das Netzwerk von persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten in der Armee zu pflegen, auf dem die Macht seines Bruders geruht hatte. Im folgenden Jahr führte dies zu einem erneuten Militärputsch, nachdem sich die Baath-Partei in den vorangehenden Jahren eine Basis in der Armee geschaffen hatte. Der starke Mann der Partei, General Ahmad Hasan al-Bakr, wurde Präsident. Seine rechte Hand war Saddam Hussein. Er hatte seit Mitte des Jahrzehnts die Partei neu organisiert und die Kontrolle über die Strasse gewonnen. Saddam Hussein musste besonderes Geschick beim Ausbau seiner Machtposition an den Tag legen, da er von einfacher Herkunft war und keinen militärischen Hintergrund besass. Durch die Kontrolle über die Geheimdienste und die Parteimiliz trug er mit brachialer Gewalt entscheidend zur Konsolidierung der Macht der Baath-Partei bei. Seine Seilschaften beruhten weitgehend auf der gemeinsamen sunnitischen Herkunft aus der Gegend um die Stadt Tikrit, aus der sowohl Bakr als auch Saddam stammten.

Machterhalt

In der Folgezeit ging es lediglich um den Erhalt der Macht eines kleinen elitären Zirkels. Ideologien wie Panarabismus oder Sozialismus dienten als Feigenblätter für Günstlings- und Vetternwirtschaft. 1979 stiess Saddam seinen Mentor al-Bakr vom Präsidentenstuhl und sicherte sich so auch die nominelle Macht im Staat. Die Stabilisierung der Baath-Herrschaft in den siebziger Jahren ging mit einem massiven wirtschaftlichen Aufschwung einher. Es hatte schon unter der Monarchie und in den sechziger Jahren Ansätze zu Industrialisierung und Sozialreform gegeben, aber erst der erhebliche Anstieg der Einkünfte aus der Ölförderung in den siebziger Jahren machte es möglich, den öffentlichen Sektor weit auszudehnen und eine breite, verhältnismässig gut verdienende Mittelschicht zu schaffen. Saddam Husseins Günstlingswirtschaft erhielt so eine neue Basis. Das staatliche Gesundheitssystem, Schul- und Universitätsbildung funktionierten auf hohem Niveau. Dennoch blieben die inneren Widersprüche bestehen.

Das Verhältnis der Zentralregierung zu den Kurden war seit der Staatsgründung geprägt von Konflikten. Kurdische Aufstände brachen in regelmässigen Abständen aus mit der Forderung nach mehr Autonomie. Kurden kontrollierten die Bergregionen des Nordiraks ebenso wie die Schmuggel- und Fluchtrouten in die Nachbarstaaten. Die Spaltung der Kurden in zwei rivalisierende Parteien seit den siebziger Jahren, deren wechselnde Allianzen mit der türkischen, der iranischen oder auch der eigenen Regierung hielten den Konflikt am Schwelen. Gipfel der Repressionen gegen die kurdische Zivilbevölkerung waren die Gasangriffe während des Iran-Irak-Krieges.

Ebenso bildeten die schiitischen Geistlichen der Pilgerstädte im Süden immer einen Herd der Opposition gegen das Regime. Sie spielten eine politische Rolle als Agitatoren, die sich gegen die säkular-sozialistischen Tendenzen der Baath richteten. Saddam Hussein unterdrückte diese Opposition durch eine rücksichtslose Verfolgungspolitik, die mit der Niederschlagung des schiitischen Aufstands nach dem Golfkrieg 1991 und den Repressalien der Folgejahre ihre Höhepunkte erreichte.

Über ein Jahrzehnt zuvor hatte Saddam Hussein den Angriff auf Iran befohlen, doch die Erwartung eines schnellen Sieges erwies sich bald als Fehleinschätzung, die bis heute Folgen zeigt. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Zuge der Kriege blieb Saddam vor allem das informelle Beziehungsnetz als Machtbasis. Heute ist deshalb eine innere Umstrukturierung des Iraks unübersehbar, die wieder Stammesloyalität als Garantin der Macht zum Zuge kommen lässt. Damit kehrt der Irak in gewisser Weise zu seinen Anfängen zurück, als König Faisal seine Autorität in einem Territorium etablieren musste, in dem Macht und Kontrolle vor allem in der Hand von Stammesfürsten lagen.

Peter Wien

Der Autor forscht am Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Feuilleton, 15. Februar 2003, Nr.38, Seite 57

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