Von Shlomo Avineri*
          Die Vorstellung, dass der Irak nach dem Ende von Saddam
          Hussein auf dem Weg zu einer mehr oder weniger demokratischen
          Gesellschaft - oder gar zu einem Vorbild für andere arabische
          Nationen - sein könnte, ist eine gefährliche Illusion. Solche
          Hoffnungen sind völlig utopisch und unrealistisch.
          Die Erfahrungen in Osteuropa
          Man kann diese Frage aus drei verschiedenen Perspektiven
          betrachten: erstens unter dem Gesichtspunkt der Erfahrungen in den
          postkommunistischen Staaten nach 1989, zweitens im Zusammenhang mit
          den allgemeinen Bedingungen in den arabischen Ländern des Mittleren
          Ostens; und drittens unter dem Aspekt der spezifischen
          demographischen, religiösen und ethnischen Verhältnisse im Irak.
          Unter allen drei Gesichtspunkten sind die Aussichten für Demokratie
          im Irak mager.
          Die Erfahrung in Osteuropa hat gezeigt, dass allein mit
          der Durchführung von Wahlen noch keine Demokratie entsteht. Für eine
          wirklich funktionierende Demokratie braucht es eine demokratische
          Kultur, das heisst die ganze Fülle von Institutionen und Normen, die
          man für gewöhnlich unter dem Begriff «Bürgergesellschaft»
          zusammenfasst: die Tradition von Freiwilligenorganisationen, die
          Akzeptierung von Nonkonformismus und Toleranz, ein gemeinsamer Glaube
          an die Würde des Individuums, eine autonome Sphäre für
          wirtschaftliches Handeln, die Trennung der politischen Gewalt von
          religiöser Legitimität. Solche Normen und Institutionen können
          nicht ohne weiteres exportiert werden. Die westlichen Gesellschaften
          benötigten Jahrhunderte, um sie zu entwickeln. Und es gab auf diesem
          Wege viele schwere Rückfälle: das lange Andauern von Sklaverei und
          Rassendiskrimination in den USA, das Auftauchen des Faschismus in
          vielen Ländern Kontinentaleuropas in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
          Diejenigen, die wie Francis Fukuyama glaubten, dass die blosse
          Abschaffung der kommunistischen Regime ein universales Aufblühen der
          Demokratie zur Folge haben werde, wurden tief enttäuscht.
          Heute kann man erkennen, dass diejenigen Länder, die
          sich zu konsolidierten Demokratien gewandelt haben - Polen, Ungarn,
          Tschechien - deshalb Erfolg hatten, weil dort bis zu einem gewissen
          Grade die Infrastrukturen einer Bürgergesellschaft bereits
          existierten und den Kommunismus irgendwie überleben konnten. In
          andern Ländern - Russland ist hier das prominenteste Beispiel -
          existierten diese Voraussetzungen nicht, und deshalb verläuft dort
          der Übergang zu einer wirklich freien, offenen und demokratischen
          Gesellschaft sehr holprig, um das Mindeste zu sagen. Nach den
          chaotischen Jahren unter Jelzin erfährt nun Russland eine gewisse
          Stabilisierung und Konsolidierung. Aber es ist die Stabilität eines
          halbautoritären Regimes, also eine autoritäre Realität «mit einem
          freundlichen Gesicht». Dass Länder wie die Ukraine, Weissrussland
          oder die zentralasiatischen Republiken immer noch meilenweit von
          einigermassen demokratischen Verhältnissen entfernt sind, ist
          offenkundig.
          Ohne demokratische Tradition
          Der arabische Mittlere Osten bietet ein anderes
          Vergleichsfeld - und kein besonders ermutigendes. Ungeachtet enormer
          Unterschiede bezüglich Grösse, Reichtum, Bevölkerungsdichte und
          Geschichte gibt es in keinem arabischen Land funktionierende
          demokratische Verhältnisse. Es gibt auch keine wirkliche
          demokratische Opposition wie die Solidarnosc in Polen oder die Charta
          77 in Tschechien. Bisher ist auch noch kein arabischer Gorbatschew
          aufgetaucht. Die Gründe dafür mögen komplex sein. Sie werden erst
          nach dem 11. September 2001 umfassender diskutiert - hauptsächlich
          in amerikanischen Think-Tanks und unter arabischen Intellektuellen. Es
          ist offensichtlich, dass dieser «arabische Sonderweg» nur wenig mit
          dem Islam zu tun hat: Die Entwicklungen in der Türkei, Indonesien,
          sogar in Pakistan und Iran legen die Vermutung nahe, dass der Islam
          als solcher kein Hindernis für demokratische Bewegungen darstellt.
          Der Umstand, dass es im Irak eine breite und gebildete
          Mittelschicht gibt, wird mitunter als Hoffnungszeichen für eine
          Demokratisierung nach Saddams Ende benützt. Das ist ein Trugschluss.
          In Deutschland gab es vor der Nazizeit eine der am höchsten
          entwickelten Mittelklassen in Europa. Es kommt nicht allein auf die
          Existenz einer Bourgeoisie (um diesen etwas altmodischen Begriff zu
          gebrauchen) an, sondern auf deren Werte, Normen und Verhaltensweisen.
          Das Fehlen jeder bedeutenden Opposition im Irak während mehr als
          zweier Jahrzehnte ist nicht geeignet, den Glauben in die
          demokratischen Neigungen der vielzitierten Mittelklasse zu ermutigen.
          Schliesslich zu den demographischen Realitäten im Irak. Die Kriege im
          früheren Jugoslawien haben gezeigt, wie schwierig es ist, eine
          posttotalitäre pluralistische Demokratie in Ländern zu etablieren,
          die durch ethnische und religiöse Gräben gespalten sind. Historisch
          gesehen ist der Irak ein Land, dass durch den britischen Imperialismus
          aus drei verschiedenen Provinzen des alten Ottomanischen Reiches
          zusammengeschustert wurde. Es ist richtig, das Saddam-Regime als eine
          Diktatur der sunnitischen Minderheit über die schiitische Mehrheit
          und der Kurden darzustellen. Doch formale Demokratie im Irak würde
          bedeuten, dass die schiitische Mehrheit die völlige Übermacht im
          Lande bekäme. Wäre das, neben dem schiitischen Nachbarn Iran,
          wirklich eine vorteilhafte Entwicklung? Sind wir sicher, dass sich
          dann nicht wieder eine Situation wie in Algerien - wo Islamisten dabei
          waren, demokratische Wahlen zu gewinnen, um dann durch eine säkulare
          Elite brutal gestoppt zu werden - wiederholen würde?
          Die Antwort, die mitunter auf diese internen Schismen im
          Irak gegeben wird, heisst «Föderalismus». Das klingt gut. Doch Föderalismus
          funktioniert nur in Gesellschaften, in denen demokratische Werte tief
          verankert sind - wie in den USA, in Kanada, der Schweiz oder im
          Westdeutschland der Nachkriegszeit. Zur Lösung ethnischer Probleme in
          Gesellschaften, die immer noch mit dem Übergang zur Demokratie kämpfen,
          hat sich die Idee des Föderalismus als Fehlschlag erwiesen: Bosnien
          ist dafür ein Beispiel, auch Zypern zeigt, dass Föderalismus kein
          Allheilmittel ist.
          Ägypten oder Syrien als Modell?
          Was also kann im Irak erwartet werden? Man muss hoffen,
          dass das Büro für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe (ORHA) im
          Pentagon die Erwartungen nicht zu hoch steckt. Seine unmittelbaren
          Aufgaben sind naheliegend und dürften verhältnismässig leicht zu lösen
          sein: humanitäre Hilfe, die Reparatur der Kriegsschäden, Einsatz der
          Öleinnahmen für den Wiederaufbau.
          Doch in Bezug auf die längerfristigen Ziele sind
          Nachkriegsdeutschland oder Japan kaum relevante Beispiele. Wenn die
          Verantwortlichen im ORHA sich umschauen, könnten sie sich vielleicht
          mit weniger als einer idealen Demokratie zufrieden geben. Und wenn sie
          und das irakische Volk Glück haben, könnten Verhältnisse wie in Ägypten
          - ein mildes autoritäres Regime, aber bei weitem noch keine freie
          Gesellschaft - verwirklicht werden. Mit weniger Glück wären ähnliche
          Zustände wie in Syrien möglich: eine nicht so milde autoritäre,
          aber eine pragmatische und nicht übermässig kriegerische Herrschaft.
          Ist das enttäuschend? Zumindest ernüchternd. Aber alles andere wäre
          eine gefährliche Utopie.
          * Der Autor ist Professor für politische
          Wissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er war
          nach 1989 an verschiedenen internationalen Projekten zum Aufbau der
          Demokratie in Osteuropa beteiligt.